Offene Türen für Missbrauch
6 Gründe, warum Sexualstraftäter in Kirchen aktiv sind
Missbrauch in Kirchen und Gemeinden ist ein heisses Thema. Aber Christen brauchen mehr als Schuldzuweisungen, wenn er geschieht, oder erleichtertes Aufatmen, wenn lange alles gut gegangen ist. Wann fangen sie an, Strukturen zu verändern, die sexuellen Missbrauch in ihren Reihen erleichtern?
Dies ist ein Plädoyer, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich geschieht Missbrauch längst nicht nur im frommen Umfeld. Doch Betroffene werden dadurch nicht ernst genommen, dass Fakten nicht auf den Tisch kommen (wie gerade in Köln, wo Kardinal Woelki seit Wochen ein Gutachten zum Thema zurückhält). Sie werden marginalisiert, wenn behauptet wird, dass Missbrauch nur ein seltenes Phänomen sei und überhaupt auch woanders vorkomme. Und sie verlieren völlig zu Recht ihr Vertrauen in den «Schutzraum Gemeinde», wenn dieser Täter mehr schützt als Opfer.
Es wird höchste Zeit, dass in Kirchen und Gemeinden realisiert wird, dass sie Missbrauch strukturell begünstigen. Oft gerade durch ein offenes Verhalten, das auf ihre Mitglieder und Gäste sehr anziehend wirkt. Der Blogger Tim Challies fasst in einem Artikel sechs Gründe zusammen, warum Sexualstraftäter gern Gemeinden ins Visier nehmen. Er bezieht sich dabei auf das Buch «On Guard» (Wachsam) des US-Seelsorgers Deepak Reju. Als Gesprächs- und Handlungsgrundlage bieten sich Punkte wie diese auch für das deutschsprachige Europa an.
1. Christen sind Sexualstraftätern gegenüber naiv
Im kirchlichen Umfeld begegnet man sich meist mit einem hohen Mass an Vertrauen. Das ist sehr positiv, kann aber schnell ins unrealistische «Bei uns passiert so etwas nicht!» abrutschen. Wer mit erhobenen Händen ein Lobpreislied mitsingt, ist dadurch doch nicht heiliger als irgendjemand, den man auf der Strasse trifft. Reju zitiert einen Staatsanwalt, der klarstellt: «Aus vielen Gründen neigen wir naiverweise dazu, automatisch unsere Wachsamkeit zu senken, wenn wir uns unter bekennenden Christen befinden. Wegen dieser Naivität begeben sich Täter scharenweise in Glaubensgemeinschaften.»
2. Christen wollen das Problem nicht wahrhaben
Etliche Christen zucken zwar zusammen, wenn in den Nachrichten von einem Missbrauchsfall berichtet wird, jedoch nur, um anschliessend aufzuatmen: «Zum Glück ist das nicht in meiner Kirche passiert.» Reju unterstreicht, dass sie im Miteinander oft Sympathie und Vertrauenswürdigkeit verwechseln. Gleichzeitig pflegen viele ein Grundmisstrauen gegenüber Berichten in der Presse oder sogar den Erzählungen betroffener Kinder. Wo die Täter einen Vertrauensbonus bekommen, erleben gerade Kinder oft, dass ihre Stimme gegenüber Erwachsenen nicht ernst genommen wird.
3. Christen bieten Sexualstraftätern leichten Zugang zu Kindern
Ganz langsam wird es normaler, dass Mitarbeitende im Kinderprogramm der Gemeinden ein polizeiliches Führungszeugnis brauchen (auch wenn dies natürlich keine völlige Sicherheit bietet). Doch durch den chronischen Mangel an solchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fällt es Tätern verhältnismässig leicht, ihre Hilfe anzubieten, die nur selten abgelehnt oder hinterfragt wird.
4. Christen können Autorität missbrauchen
Grosses gegenseitiges Vertrauen ist ein typisches Kennzeichen von Gemeinden – klare Hierarchien ein anderes. Nicht nur in der katholischen Kirche wird gern unterstrichen, dass Leitung anzuerkennen ist. Der Grad ist sicher von Kirche zu Kirche unterschiedlich, aber Tatsache ist, dass eine «von Gott gegebene» Führungsposition nicht so einfach infrage gestellt wird. Wie schnell solch eine Autorität missbraucht werden kann, lässt sich leicht an zahlreichen Schlagzeilen ablesen.
5. Gemeinden können einen frommen Deckmantel für Missbrauch liefern
Jugendleiter, Pastorinnen, Kindergottesdienstmitarbeiter und Sonntagsschullehrerinnen arbeiten eng mit Kindern zusammen – und das sollen sie auch. Doch Sexualstraftäter unter ihnen können leicht ihre geistliche Leitungsfunktion missbrauchen. Und religiöse Sprache kann das noch unterstützen. «Gott hat mir gesagt, dass ich das tun soll.» Widerspricht ein Kind da? «In der Bibel steht, dass wir einander lieben sollen, deshalb ist das hier keine Sünde.» Durchschaut ein Kind das? Die Sprache in Kirchen und Gemeinden kann leicht dazu missbraucht werden, besonders Kinder zu manipulieren.
6. Kirchen bieten «billige Gnade» an
Natürlich kommt es vor, dass Sexualstraftäter im kirchlichen Kontext entdeckt werden. Doch leider bedeutet das nicht, dass sie auch zur Rechenschaft gezogen werden. Reju betont: «Missbrauchstäter sind nicht dumm. Sie wissen, dass sie wahrscheinlich nur zu weinen brauchen, ihre Reue ausdrücken müssen und versprechen, so etwas nie wieder zu tun, um sehr wahrscheinlich keine nennenswerten Konsequenzen auf sich nehmen zu müssen.» Oft ist das Schlimmste, was passieren kann, ein Gemeindeausschluss. Die Leitung hat Angst vor einem Skandal und möchte in guter Weise Vergebung leben – und der Sexualstraftäter wechselt einfach die Gemeinde.
Ein Klima des Schutzes und nicht des Misstrauens
Es gibt leider keinen vollkommenen Schutz gegen Kindesmissbrauch. Aber andersherum gesehen gibt es ein völliges Versagen dabei, wenn das Thema Missbrauch auf Einzelfälle reduziert wird und Kirchen und Gemeinden nicht bereit sind, sichere Strukturen zu schaffen.
Ist das ohne ein vergiftendes Klima des Misstrauens umzusetzen? Ja, denn das wäre in der Tat das falsche Extrem. Doch schon Jesus selbst forderte seine Jünger zu einem scheinbar paradoxen Verhalten in der Welt auf: «Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!» (Matthäus-Evangelium, Kapitel 10, Vers 16). Liebevoller Umgang muss nicht naiv sein. Und Vorsicht braucht kein Misstrauen zu erzeugen. Doch dazu müssen Gemeinden Verantwortung übernehmen – bevor Kinder in ihrem Rahmen missbraucht werden.
Zum Thema:
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Sexualerziehung: Just do it: Kinder bestmöglich vor Missbrauch schützen
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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