Der Stress mit dem Glück

«Es ist befreiend, sich Zeiten des Unglücks zuzugestehen»

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Manuel Schmid (Bild: RefLab)
Der evangelisch-reformierte Theologe Manuel Schmid hinterfragt das gängige Mantra des positiven Denkens und die permanente Glücksoptimierung, auf die unsere Gesellschaft ausgerichtet ist. Die Gründe dafür liegen tief in seiner Vergangenheit, wie er in der SRF Talkshow «Fenster zum Sonntag» berichtet.

Manuel Schmid ist angestellt im RefLab, welches regelmässig Audio- und Videopodcasts für ein kirchenfernes Publikum produziert. Hier werden Fragen über den Glauben und die verschiedenen Religionen thematisiert.

Gleich zu Anfang der Sendung hält er fest: «Ich lebe nicht mit dem permanenten Gefühl, ein glücklicher Mensch zu sein.» Das Thema beschäftige ihn aber immer wieder, eben weil er das Glücklichsein nicht als eine Selbstverständlichkeit ansehe. Der Grund dafür sei ein Autounfall, den er im Alter von elf Jahren mit seiner Familie erlitt.

Ein traumatisches Erlebnis

Manuel und seine Familie waren auf dem Weg in die Skiferien, als das Auto in einer Kurve plötzlich ins Rutschen kam. Tatsächlich kamen sie von der Strasse ab, wodurch sich der vordere Teil des Autos über einen Abhang neigte. Manuel, der nicht angeschnallt war, riss reflexartig die Tür auf, sprang aus dem Auto und rollte mehrere Meter den Abhang hinunter, bis er in einer Mulde zum Stillstand kam. Das Auto rollte ihm hinterher, überschlug sich mehrmals, fiel ebenfalls auf die Mulde, in der Manuel lag, und kam schliesslich durch einen Baum, kurz vor einem Abgrund, zum Stehen. Die Eltern und Manuels Schwester blieben praktisch unversehrt, doch sein Bruder erlitt ein Schädelhirntrauma, lag mehrere Wochen im Koma und leidet bis heute unter körperlichen Einschränkungen. Das Auto, welches quasi auf Manuel drauffiel, riss ihm auf Wadenhöhe das Bein ab, wodurch auch er einen langen Spitalaufenthalt hatte.

Durch dieses traumatische Erlebnis entwickelte Manuel eine Sensibilität dafür, das Lebensglück nicht für selbstverständlich zu nehmen und merkte, dass die meisten Menschen «sich nicht bewusst sind, wie wenig es braucht, dass die Karten des Lebens komplett neu gemischt werden.»

Glücksverliebte Gesellschaft

Heute beobachtet Manuel, dass es eine Selbstverständlichkeit geworden ist, das Verfolgen vom persönlichen Glück zum Ziel des Lebens zu machen. Dadurch sei die Erwartungshaltung entstanden, dass das Leben einem dieses Glück auch irgendwie bieten müsse.

Auch Social Media seien ein Verstärker dieses Phänomens, da dort nur die fröhlichen Momente des Lebens geteilt würden, was bei anderen Gedanken wie «Alle sind glücklich, dann sollte ich es doch auch sein» hervorrufe.

Unbarmherzigkeit des positiven Denkens

«Ich denke, hinter dem ganzen Optimismus-Mechanismus steht der Gedanke: Wenn du glücklich werden willst, musst du glückliche oder positive Gedanken kultivieren. Und dann ziehst du das Glück an», bringt Manuel Schmid das Mantra unserer Zeit auf den Punkt. Der Umkehrschluss dieser Überlegung sei jedoch fatal, da dies bedeuten würde, dass man selber schuld sei, wenn einem etwas Schlimmes zustösst. «Es ist eine wahnsinnig unbarmherzige Ideologie […], dass wenn du dein Glück mit deinen positiven Gedanken anziehst, du natürlich dein Unglück auch mit deinen negativen Gedanken begünstigst.» Es sei eine Tatsache, dass auch den positivsten Menschen die schlimmsten Sachen zustossen.

Daraufhin erklärt er, wie es regelrecht befreiend sein kann, sich selbst Zeiten des Unglücks zuzugestehen. «Manchmal passieren uns Sachen, bei denen die einzig angemessene Reaktion ist, einfach mal unglücklich zu sein.» Natürlich solle man aber auch nicht in seiner Schwermut schwelgen.

Das Glücksparadox

Als Mann, der sich schon jahrelang mit dem Thema «Glück» auseinandersetzt, erkennt Manuel Schmid das sogenannte Glücksparadox, welches unsere Gesellschaft aushöhle. «Ich finde es eine faszinierende Einsicht, dass Glück sich dann einstellt, wenn man es nicht mehr so verbissen sucht», so der Schweizer Theologe. Glück sei kein gutes erstes Ziel, sondern viel mehr das Nebenprodukt dessen, ein grösseres Lebensziel zu verfolgen.  

Das Verhängnisvolle am Glücksmantra unserer Zeit sei, dass «je mehr die Einzelnen versuchen, ihr individuelles Glück zu verfolgen, desto geringer werden die Chancen, dass sie es auch wirklich finden».

Glücklich sind die Gläubigen?

Der Gedanke, für etwas Grösseres als das eigene Glück zu leben, könne natürlich gut mit dem Glauben verbunden werden. In der Bibel sagt Jesus im Matthäus-Evangelium Kapitel 6, Vers 33: «Setzt euch zuerst für Gottes Reich ein und dafür, dass sein Wille geschieht. Dann wird er euch mit allem anderen versorgen.»

Der Glaube sei aber kein Glücksversprechen, sondern viel mehr als nur das. «Der Glaube an Gott eröffnet uns eine Perspektive, in der unser Leben Bedeutung hat, […] auch wenn wir nicht immer glücklich sind.» Es berühre ihn zutiefst, wie der Glaube über das ganze Leben eines Menschen die Botschaft «Du bist geliebt» ausspreche.

Zum Schluss gibt Manuel noch einen letzten Gedanken weiter: Er lebe in der Zuversicht, nicht, dass alle auf dieser Seite der Ewigkeit ihr individuelles Glück finden, sondern dass das Leid und die Not der Menschen nicht das letzte Wort haben werden. «Für mich ist das das Zentrum meines Glaubens.»

Die Sendung mit Manuel Schmid kann weiterhin auf SRF geschaut werden.

Livenet führte im August 2020 einen Talk mit Manuel und Dan Schmid zu einem sehr ähnlichen Thema durch:

Zur Webseite:
Manuel Schmids Blog

Zum Thema:
Glücksforschung: Er entschlüsselt den Weg zum Glück
Change! – Thesen für die Kirche: Manuel Schmid: «Bescheidenheit braucht das Land»
Glücklich im Leben?: Wir sind zu mehr berufen als nur Glück

Datum: 05.02.2021
Autor: Hanna Krückels
Quelle: Livenet / Fenster zum Sonntag

Kommentare

Wer Jesus Christus nachfolgen will, muss sein Kreuz auf sich nehmen (Lukas 9,23). Paulus gibt einen Einblick in 2.Korinther 11,24-28: "24 Von den Juden habe ich fünfmal die »vierzig ´Hiebe` weniger einen« bekommen. 25 Dreimal wurde ich mit der Rute geschlagen, einmal wurde ich gesteinigt, dreimal habe ich einen Schiffbruch erlebt, und einmal trieb ich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht auf dem offenen Meer. 26 Ich habe viele ´beschwerliche` Reisen unternommen ´und war dabei ständig Gefahren ausgesetzt`: Gefahren durch ´reißende` Flüsse, Gefahren durch Wegelagerer, Gefahren durch Menschen aus meinem eigenen Volk, Gefahren durch...". (NGÜ) Claus F. Dieterle, Königs Wusterhausen

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