Zunehmender Individualismus

In Japan heiraten Frauen sich selbst – und bei uns?

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Wir leben in einer Zeit, in der man sich mit ehrlicher Demut nur noch wenig Anerkennung und Respekt verdient. Stattdessen wird jungen Menschen beigebracht, sich selbst möglichst perfekt zu verkaufen. Doch dabei geht der Blick für den Anderen und das Wohl der Gesellschaft verloren. Die Messlatte ist falsch gesetzt.

In Japan leben heute bereits mehr als die Hälfte der Frauen ein Single-Leben. Da der Wunsch nach einer Heirat offenbar dennoch sehr gross ist, hat sich ein neuer Trend etabliert: Frauen heiraten sich selbst. Die Hochzeit läuft mit allem Drum und Dran ab, also Hochzeitskleid, Hochzeitstorte, Hochzeitsfest. Der schönste Tag im Leben eben – nur ohne Partner.

An solch einer «Ich-heirate-mich-Hochzeit» geht es nur um die Braut. All ihre Wünsche sollen erfüllt werden. Ohne lästige Diskussionen, welche Gäste denn nun eingeladen werden oder welches Hochzeitsmenu serviert werden soll. Alles geschieht nach dem Willen der Braut. Sie möchte nach eigenen Aussagen kein Teil eines anderen Menschen sein, auf niemanden Rücksicht nehmen müssen. So wird auch das Fotoshooting nur mit der Braut und den Gästen durchgeführt. Sollten nicht genügend Gäste aus dem Freundeskreis gefunden werden, so kann man sich auch Gäste «mieten». Das sieht dann nach mehr aus und auch darum geht es schliesslich: um die Wirkung nach aussen.

Ist dieses Phänomen nur eine lustige Anekdote? Oder ist es nicht viel eher Ausdruck eines individualistischen, ja egoistischen Zeitgeistes? Einer Gesellschaft, in der man nicht mehr bereit ist, Kompromisse einzugehen und jegliche verbindliche Beziehung scheut? In der nur die eigenen Wünsche zählen? Zugegeben, das Beispiel der Solo-Hochzeit ist aussergewöhnlich. Aber zeigt es nicht gerade eindrücklich auf, dass heute die Bereitschaft, sich zu investieren, immer mehr schwindet? In den letzten Jahrzehnten ist zunehmend ein Drang zum Individualismus, ja zur Egozentrik zu beobachten. Die Begründung: der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Rückläufige Freiwilligenarbeit

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Ralph Toscan von der Stiftung Zukunft CH
Da ist z.B. die oft in den Medien erwähnte Problematik der rückläufigen Freiwilligenarbeit zu nennen. Die Konsequenzen sind gravierend: Arbeit, die früher von Freiwilligen erledigt wurde, muss nun durch bezahlte Mitarbeiter geleistet werden. Im schlimmsten Fall fällt die bisher freiwillig erbrachte Dienstleistung ganz weg – zum Schaden von Senioren, Kranken und Hilfsbedürftigen. Selbst in bezahlten Jobs wird immer mehr die Frage gestellt: «Und was habe ich davon?» Die Anspruchshaltung ist, dass zuerst ich davon profitieren muss und Arbeit nur dann wertvoll ist, wenn sie finanziell entlohnt wird. Ein Dankeschön und freudige Gesichter reichen nicht mehr.

Diese Entwicklung hat verschiedene Hintergründe. Der Hang hin zum Individualismus und Egoismus ist sicher eine treibende Kraft dahinter. Speziell hat auch die feministische Strömung dazu beigetragen, dass «unbezahlte Arbeit» in der Gesellschaft als wertlos betrachtet wird. Eine Frau, die «nur» Hausfrau und Mutter ist, wird heute «schief» angeschaut. «Und was arbeitest du eigentlich?» ist da noch die harmloseste der Fragen, mit welchen Mütter oft konfrontiert werden. So sagen Mütter mir gegenüber, dass sie sich manchmal minderwertig vorkommen, weil sie «nur» Teilzeit oder gar keiner entlohnten Arbeit nachgehen. Ihre Leistungen werden in der heutigen Gesellschaft nicht mehr wertgeschätzt.

Doch auch die Männer leiden unter diesen Einflüssen. Einerseits wird erwartet, dass der Mann die Familie ernährt. Andererseits soll er auch Papi sein, der anwesend ist, um die berufstätige Mutter zu entlasten. Sie, die ja auch den neuen Normen der Gesellschaft zu entsprechen hat und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen muss. Der Dienst zugunsten der Kinder und damit eben auch der Gesellschaft wird aber von Mann und Frau getragen. Das allein ist heute jedoch nicht mehr attraktiv, denn man/frau muss doch mehr leisten: Karriere, Kinder, Wohlstand, Ferien und dabei noch gut aussehen. Wer nicht mithält, ist nicht stark genug. Sind nun aber erstmal alle Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, bleibt eben auch weniger Kraft und Zeit für Freiwilligenarbeit übrig. Das bedeutet, dass neben der Entwertung von unbezahlter Freiwilligenarbeit auch die zeitlichen Möglichkeiten für den Menschen immer geringer werden.

Getrieben durch den Zeitgeist

Doch kann das unser Ziel sein? Wir sind alle ein Teil dieser Gesellschaft und denselben Einflüssen ausgesetzt. Die Frage ist letzten Endes, wie wir damit umgehen. Der deutsche Autor Steffen Hoffmann beschreibt das äusserst treffend: «Wenn man sich brav anpasst und mitfliesst im Strom des Zeitgeistes, dann treiben einem die Freuden des Lebens einfach zu – so wird es uns eingeflüstert. Man braucht sich selber auch nicht mehr zu bewegen, man wird bewegt durch den Strom des heutigen Lebens, der die meisten Menschen erfasst. Man braucht nicht mehr zu kochen, man wird bekocht mit Fertiggerichten und Fastfood. Man braucht sich nicht mehr um seine Seele zu kümmern, man wird mit den Gelüsten des Konsums und auch Psychopharmaka bekümmert.

Man braucht sich auch nicht mehr zu unterhalten mit jemandem, man wird unterhalten durch die Medien. Man braucht sich nicht mehr zu erinnern, man wird im Internet an alles und jeden erinnert, inklusive an das eigene Konsumverhalten und die politischen Interessen. Doch aus den treibenden Menschen werden Getriebene. Getriebene, die im Hamsterrad Tag für Tag als Gegenleistung für alle Versorgung, erwünscht oder nicht, ihren Obolus an Zeit und Kraft entrichten müssen. Ihre Vitalität, Zeit und Kraft bleiben dabei aber oft auf der Strecke. Übrig bleibt ein unglaublicher Aktivismus, der zu Müdigkeit, geistiger Mattigkeit und Zeitknappheit führen kann. Wir treten in Fallen, die uns lähmen, der Gesellschaft und dem Nächsten zu dienen. Und wir beginnen damit, uns ständig mit uns selber und unseren Wünschen und Bedürfnissen zu beschäftigen.» (Steffen Hoffmann  «Auszug aus Neubabylon», Verlag Christlicher Mediendienst, Hünfeld, 2014)

Der Ich-Faktor und der Mitmensch

Scheinbar haben alle grenzenlose Kraft und bringen «Alles unter einen Hut». Derjenige, der in allem erfolgreich ist und alles hat, was sich andere scheinbar wünschen, hat es geschafft. Doch die Zufriedenheit bleibt auf der Strecke, weil diese Erwartung nicht befriedigt werden kann. Und die, die es anscheinend geschafft haben, geben sich alle Mühe, dass die Maske nicht herunterfällt – damit sie von anderen weiter bewundert werden.

Aber macht es mich wirklich glücklich, wenn es nur immer um mich selbst geht? Wenn ich quasi nur noch mich selbst heirate? Frei nach dem Motto: «Wenn jeder für sich sorgt, ist für jeden gesorgt!» Dem Druck, erfolgreich, unabhängig und geachtet sein zu müssen, halten wir irgendwann nicht mehr Stand. Und dann sind wir froh, wenn wir Menschen um uns haben, die uns durch die Tiefen unseres Lebens begleiten. Selbstlos und freiwillig. Beginnen wir doch selbst wieder, uns für den Nächsten einzusetzen und unsere eigenen Wünsche öfter mal hinten anzustellen. Den Blick immer mal wieder von mir weg und hin zum Anderen zu richten, lohnt sich – für alle!

Zum Thema:
Masshalten – Teil 4: Als Christ in einer masslosen Welt
Papst Franziskus: Eine starke Stimme für die Familie
Generation Y: Zwischen Smartphone und Sinnsuche

Datum: 29.12.2017
Autor: Ralph Toscan
Quelle: Stiftung Zukunft CH

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