Von EU-Standards weit entfernt

Religionsfreiheit im Krebsgang

Brüssel eröffnet am Dienstag die neue Verhandlungsrunde mit der Türkei. Diese soll einen Beitritt Ankaras zur EU wieder mal ein Stück näher bringen. Doch die Türkei scheint von EU-Standards noch weit entfernt...

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Recep Tayyip Erdoğan
Nach längerer Europa-Verdrossenheit unter den Türken greifen diese jetzt freudig nach der neuen Gelegenheit. Denn ihre Träume, zur islamischen Führungsmacht aufzusteigen, haben in letzter Zeit empfindliche Dämpfer erhalten: In Ägypten steht der Anfang Juli gestürzte Präsident Mursi aus den Reihen der Muslimbrüder seit diesem Montag vor Gericht. Mit ihm hatte sich der türkische Regierungschef Erdogan allzu eng eingelassen. Umgekehrt entschwinden all seine Hoffnungen, das Assad-Regime in Damaskus mit Hilfe der syrischen Islamisten zu stürzen. Sogar die wichtige türkische Tageszeitung «Zaman» (Die Zeit) musste am Sonntag eingestehen, «dass jede Repression durch die Diktatur im Vergleich zu den Gräueln der Muslimrebellen völlig verblasst».

Also versucht es Ankara wieder mit der Europäischen Gemeinschaft. Ungeachtet der Tatsache, dass seine EU-Reife neuerdings wieder abnimmt. Das ganze so gross ausposaunte Reformpaket Erdogans brachte keine Demokratisierung, sondern im Gegenteil den Rückschritt nun wieder bekopftuchter Parlamentarierinnen in der türkischen Nationalversammlung. Während das als «Religionsfreiheit» hingestellt wird, legt die islambewegte Regierung von Ankara den Christen nach längerer Liberalisierung wieder die Schrauben an. Abendmahlsfeiern werden hier und dort verboten und Istanbuls höchster islamischer Geistlicher Mustafa Akgül denkt laut darüber nach, dass die Rückverwandlung des Hagia-Sophia-Museums in eine Moschee nicht mehr lang auf sich warten lassen wird.

Auch manches andere deutet darauf hin, dass sich der Osmanen-Nostalgiker Erdogan nicht länger an den Reformsultanen Abdül Mecid I. und Abdül Aziz orientiert. Diese hatten zum ersten und letzten Mal in einem islamischen Staat den Christen – zumindest auf dem Papier – volle Religionsfreiheit gewährt. Erdogans neues Vorbild scheint hingegen der «blutigrote» Abdül Hamid II. zu sein. Dieser gilt als Urheber des heutigen Politislams und hat die ersten Christenpogrome auf dem Gewissen.

Einen bisher unbekannten Abdül Hamid II. zeigte am letzten Wochenende eine Tagung in Istanbul über die gezielte Zwangsislamisierung türkischer Christen Ende des 19. Jahrhunderts. Während die Massenmorde an Armeniern, Syrisch- und Griechisch-Orthodoxen sowie zahlreichen evangelischen Christen aus ihren Reihen inzwischen weltweit angeprangert werden, blieben die Nötigungen, den Islam anzunehmen, bisher unter den Teppich gekehrt. Die Neuausrichtung der türkischen Religionspolitik in diese Richtung kann nichts Gutes bedeuten…

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Datum: 04.11.2013
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

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