Christen brauchen Vision
Zwischen Realismus und Perspektive
Wir brauchen eine Perspektive, die uns voranbringt, und gleichzeitig eine realistische Sicht der Dinge. Der Apostel Paulus erlebte und betonte verschiedene Aspekte solch einer «Vision», die alle notwendig dazugehören.
Manche Christen sprechen permanent von Visionen. Ohne Eindrücke, Visionen und prophetische Schauen geht bei ihnen gar nichts. «Wo keine Offenbarung (Vision) ist, wird das Volk zügellos», heisst es für sie in Sprüche, Kapitel 29, Vers 18. Demgegenüber stehen Aussagen wie die des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der meinte: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.»
An beidem ist viel dran. Wir brauchen eine Perspektive, die uns voranbringt und weiterhilft. Und wir brauchen immer wieder eine realistische Sicht der Dinge. Der biblische Apostel Paulus kann hier mit seinem Blick auf Visionen helfen.
Ein Blick hinter die Kulissen
In 2. Korinther, Kapitel 12, Vers 1-5 erzählt Paulus von einer besonderen Erfahrung, die er gemacht hat: einem Blick in himmlische Sphären. Er wird quasi ins «Paradies» gebracht und hört «unaussprechliche Worte». Wahrscheinlich denkt er sich: Das glaubt mir keiner… Trotzdem erzählt er davon, weil es ihn nachhaltig geprägt hat.
Ähnliches schrieb lange danach die bekannteste Albanerin auf, Mutter Teresa. Sie wurde bekannt als «Engel der Armen», erhielt den Friedensnobelpreis, wurde heilig gesprochen und war für viele ein geistliches Vorbild. Erst nach ihrem Tod erschien ihr Tagebuch. Darin erzählt sie von ihrer mystischen Berufung in der Eisenbahn, als Gott sie direkt ansprach. Aber sie berichtet auch von der dann folgenden 50-jährigen (!) Funkstille und ihren Depressionen, denn ihre besondere Gottesbegegnung blieb einmalig: «Dunkelheit umgibt mich auf allen Seiten. Meine Seele leidet. Vielleicht gibt es gar keinen Gott. Ich spüre eine unendliche Sehnsucht, an ihn zu glauben. Aber wenn es keinen Gott gibt – Himmel, was für eine Leere!»
Und wir?
Wir brauchen diese besonderen Begegnungen mit Gott, von denen wir niemandem erzählen können. Die uns aber prägen und verändern. Und auf die wir gleichzeitig kein Anrecht haben.
Konkrete nächste Schritte
In Apostelgeschichte, Kapitel 16, Vers 6-10 zieht Paulus mit seinem Missionsteam durch die heutige Türkei. Sie wollen weitere Gemeinden gründen, besuchen aber zunächst einmal die bereits existierenden Gemeinden – und diese werden «gestärkt und nahmen an Zahl täglich zu» (Vers 5). Trotzdem verhindert Gottes Geist, dass sie weitermachen. Hat Paulus einen Traum? Gibt es Stau auf den Strassen? Fehlen dem Apostel plötzlich die Worte? Wir wissen es nicht. Vielleicht hat sich Paulus auch nur auf seinen ursprünglichen Auftrag besonnen, Gemeinden zu gründen und nicht nur zu besuchen. Jedenfalls ist es Paulus klar, dass es kein «Weiter so» geben kann. Und dann führt Gott sehr konkret. Ab nach Troas. Ins Schiff nach Makedonien. Und in die Stadt Philippi. Kann Vision so konkret und einfach sein? Ja – und das muss sie manchmal auch.
Und wir?
Wir brauchen diese pragmatischen und konkreten Visionen. Diese Erinnerung: Dafür bist du doch einmal angetreten. Dann mach doch genau das, was du schon immer wolltest.
Grosse Pläne für die nächste Generation
Vierzehneinhalb Kapitel lang schreibt Paulus in seinem Brief an die Römer über Verlorenheit, Rechtfertigung und Heiligung. Über Israel und die Gemeinde. Und dann, in Römer, Kapitel 15, Vers 23-24, kommt er zu seinem eigentlichen Anliegen. Er möchte auf seiner Durchreise nach Spanien in Rom vorbeikommen und dabei «erquickt» (motiviert) und «geleitet» (finanziell versorgt) werden. Kirchengeschichte und Bibel sind sich einig, dass Paulus Spanien nie erreicht hat. Sind diese Verse trotzdem eine gültige Vision?
Ja. Sie sind nur kein Ziel. Denn ein Ziel ist S.M.A.R.T., also spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert. Eine Vision ist das nicht. Sie vermittelt das Bild dahinter. Sie gibt Kraft, dieses Ziel zu erreichen. Unschlagbar ist hier das Zitat von Antoine de Saint-Exupéry: «Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.»
Ein Ziel muss S.M.A.R.T. erreichbar sein. Eine Vision nicht. Da stellt sich eher die Frage: Gibt es noch Raum für Gottes übernatürliches Handeln in der Vision oder ist sie so realistisch, dass wir sie mehr oder weniger allein umsetzen können?
Und wir?
Wir brauchen diese hochfliegenden Visionen. Dieses Rechnen damit, dass Gott mit uns etwas vorhat, das unsere eigenen Möglichkeiten sprengt.
Versöhntes Leben
In 2. Korinther, Kapitel 5, Vers 16-19 fällt kein Wort von «Vision». Aber Paulus erzählt davon, dass wir niemanden mehr so kennen, wie er war, sondern so, wie er in Christus ist. Er spricht davon, dass Beziehungen heil und neu werden. Und das ist sowas von visionär!
Die meisten Christen haben schon (zu) viele Predigten über «Wachstum von innen nach aussen» gehört. Trotzdem gehen sie nach dem Gottesdienst nicht auf die Personen zu, mit denen sie in den letzten fünf Jahren kein Wort mehr gewechselt haben, «weil da mal was vorgefallen ist». Wie wäre es, wenn wir einander in die Augen schauen und aus vollem Herzen sagen könnten: Da gab es mal Probleme. Aber die sind beigelegt. Jetzt ist alles neu. Wir sind versöhnt und gehen gemeinsam voran. Auch das meint Paulus mit: «Siehe, es ist alles neu geworden!»
Und wir?
Wir brauchen diese persönlichen Visionen, Neuanfänge, Aufbrüche, das Miteinander-Reden, den Glauben, dass Gott mit dem anderen noch etwas vorhat – so wie mit mir.
Darum geht’s
Jonathan Swift war verhinderter Theologe, begnadeter Satiriker und der Autor von «Gullivers Reisen». Er sagte einmal: «Vision ist die Kunst, Unsichtbares zu sehen.» Stimmt! Es geht darum,
- besondere Begegnungen mit Gott zu pflegen,
- konkrete Schritte zu sehen und zu gehen,
- zu träumen und mit Gottes Eingreifen zu rechnen
- und immer wieder zu hoffen und zu wissen, dass Gott weder mit uns noch mit anderen am Ende ist.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet