Liebe oder Grössenwahn?
Christusstatuen und andere Siegeszeichen
Seit dem Mittelalter wurden Kirchen und Kathedralen immer höher. Momentan liefern sich Christen weltweit beinahe ein Rennen darum, wer die grösste Christusstatue baut. Woher kommt eigentlich dieser Drang, den eigenen Glauben möglichst gewaltig darzustellen?
Die bekannteste Christusstatue ist nach wie vor «Cristo Redentor» (Christus, der Erlöser) im brasilianischen Rio de Janeiro. Die inzwischen 90-jährige Skulptur ist allerdings schon lange nicht mehr die grösste Statue: Das ist seit 2010 die Christus-König-Statue im polnischen Świebodzin mit 36 Metern Höhe – inklusive Sockel kommt sie sogar auf 52 Meter. Doch gerade wird in Brasilien eine weitere Statue gebaut: «Christus, der Beschützer» soll 43 Meter hoch werden (Livenet berichtete).
Unser Jesus ist grösser
Es scheint eine Art Wettkampf zu sein: Welche Region schafft es, die grösste Christusstatue zu bauen? Wikipedia verzeichnet weltweit 27 solcher Statuen mit einer Höhe von mehr als 20 Metern. Sie stehen unter anderem in Vietnam, auf den Philippinen und in Mexiko. Die meisten Statuen breiten ihre Arme einladend aus, einige erheben sie segnend, aber alle unterstreichen durch ihre schiere Grösse ihre Wichtigkeit. Zum Vergleich: Die weltberühmte «Pietà» von Michelangelo misst gerade einmal 1,74 Meter.
Ein Zeichen von Gottes Grösse
Für Jahrhunderte gebot die Statik der Idee Einhalt, dass Kirchen und christliche Symbole wirklich gross werden konnten, doch mit der Gotik und der Erfindung des Spitzbogens änderte sich das. Nach oben schien es fast keine Begrenzung mehr zu geben und hohe Kirchenschiffe und aufstrebende Kirchtürme unterstrichen nicht nur die (finanzielle) Macht der Kirche, sondern waren auch ein Zeigefinger in Richtung auf den Himmel.
In unseren Tagen wurde dieses Denken aufgenommen durch Projekte wie die «Kristallkirche» von Robert Schuller, aus der über 40 Jahre lang seine «Hour of Power»-Gottesdienste übertragen wurden. Und Statuen wie «Christus, der Beschützer» in Brasilien sollen – gerade in einer von Armut, sozialen Schwierigkeiten und der Covid-19-Pandemie geprägten Zeit – zeigen, dass Christus grösser ist als all diese Herausforderungen.
Das Babylon-Syndrom
Allerdings greift die Schlussfolgerung «gross = gut» definitiv zu kurz. Wenn ein Schauspieler in Mexiko die weltgrösste Christusstatue erbauen lassen will, dann mag das viel mit seiner persönlichen Frömmigkeit zu tun haben, aber genauso mit der Idee, sich selbst und seiner Heimat einen Namen zu machen. Wie viele ähnliche Projekte scheint übrigens auch dieses nicht realisiert zu werden. Seit 2019 ist nichts mehr davon zu hören.
Projekte können scheitern, doch bei diesem kommt dazu, dass es wohl hauptsächlich um die Grösse ging. Das Alte Testament berichtet bereits am Anfang von einem ähnlichen Plan: «Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen» (1. Mose Kapitel 11, Vers 4). Gab es diesen Turm oder ist er nur ein Bild? Das scheint fast egal, denn es wird deutlich, dass Egoismus und Grössenwahn an ihre Grenzen stossen. Immer.
Der Schweizer Psychologe Gerhard Dammann nannte Narzissmus – also eine besondere Form der Selbstverliebtheit – einmal «die Leitneurose der Gegenwart». Offensichtlich ist ein krankes Streben nach Grösse also nicht nur in der Vergangenheit vorhanden.
Höher, schneller, weiter
Der höhere Kirchturm oder die grössere Christusstatue haben wenig mit dem Leben der meisten Christen zu tun. Doch das Prinzip dahinter kennen die meisten auch aus ihrem Alltag: «In meiner Gemeinde sind im letzten Jahr 59 Menschen zum Glauben gekommen. Und in deiner?» «Ich habe angefangen, die komplette Bibel in einem Jahr durchzulesen. Das ist so segensreich. Liest du eigentlich immer noch nur die Losungen?» Diese und andere Äusserungen scheinen auf den ersten Blick so geistlich zu sein. Doch in Wirklichkeit sind sie nur Teil eines Ich-bin-besser-als-du-Wettkampfes, den viele Christen immer noch kämpfen.
Innere Grösse
Bei Licht betrachtet geht es in der Bibel nicht darum, Gott oder andere Menschen mit grossen Zahlen zu beeindrucken. Es geht vielmehr darum, im Glauben zu wachsen, den eigenen Charakter zu entwickeln und anderen Menschen so zu begegnen, wie Jesus es getan hätte. Fünf Meter mehr für eine weitere Christusstatue scheinen hier nicht hinzupassen.
Dasselbe gilt für viele Menschen, die Jesus begegneten. Einige davon hatten viel auf dem Konto. Doch selbst eine reiche Frau machte kein Aufhebens davon, als sie ein Vermögen investierte, nur um Jesus die Füsse zu salben. Sie tat es einfach (Markus Kapitel 14, Verse 3–9). Manchmal ist es sicherlich an der Zeit, ein Zeichen zu setzen und Gottes Grösse zu unterstreichen. Aber die schwierigere Übung scheint es zu sein, sich mit vollem Einsatz, aber unauffällig, für Gott zu engagieren.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet