Sucht, Gewalt und Übergriffe
Livenet-Talk: «Wir müssen uns umeinander kümmern»
In der aktuellen Pandemie nehmen Abhängigkeiten und Gewalt zu. Höchste Zeit also, um darüber zu sprechen und Hilfe anzubieten. Wir sind zu Zivilcourage aufgerufen und dazu, uns um Mitmenschen zu kümmern.
Corona schlägt auf die Psyche, Gewalt und Sucht nehmen zu. Ein Grund, um darüber zu sprechen. Im Livenet-Talk spricht Redaktionsleiter Florian Wüthrich mit zwei Fachpersonen darüber, wie es zur Abhängigkeit kommen kann und wie diese überwunden werden können.
Die Talk-Gäste
Susanna Aerne ist selbständige Paar- und Familienberaterin und Bildungsleiterin vom Schweizerisch Weissen Kreuz. In ihrem Arbeitsalltag sind Sucht, Gewalt und Übergriffe häufige Themen. Der zweite Gast ist Mike Sigrist. Als Bereichsleiter im Blauen Kreuz (Bern, Solothurn, Freiburg) für Beratung und Therapie arbeitet er in der Fachstelle für Alkohol- und Suchtprobleme in Langenthal. «Sucht begegnet mir in meiner Arbeit als Berater täglich», sagt er. «Gewalt und Übergriffe sind häufige Begleiterscheinungen.»
Sucht ist nie Privatsache
In vielen Jahren des Engagements in der Suchtprävention hat Mike Sigrist festgestellt, «dass Abhängigkeiten zerstörerisch sind – für den Betroffenen selbst, aber auch für das Umfeld». Oder mit anderen Worten: «Sucht ist nie Privatsache!» Angehörige leiden und für Kinder haben Sucht und Gewalt in ihrem Umfeld starke Auswirkungen auf die Entwicklung.
«Gewalt beeinflusst die Persönlichkeit von Kindern», hält auch Susanna Aerne fest. Die Forschung habe herausgefunden, dass sich sogar das Gehirn verändern kann. «Physisch erlebte Gewalt führt zu einer chronisch erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen, wodurch die Empathie heruntergesetzt wird. Dadurch steigt die Bereitschaft zu Aggressionen und die Selbstkontrolle entgleitet.» Wenn bereits bei Erst- oder Zweitklässlern eine hohe Gewaltbereitschaft festgestellt wird, kann es sich lohnen, die Familiensituation einmal genauer anzuschauen. Man geht davon aus, dass in der Schweiz 100'000 Kinder mindestens ein Elternteil haben, das von Sucht betroffen ist.
Die Hilfe muss früh kommen
Meist dauert es lange, bis Sucht- und Gewaltprobleme als solche erkannt werden und Hilfe gesucht wird. Susanna Aerne sagt, dass Personen derart an Übergriffe gewöhnt sind, dass sie gar nicht verstehen, dass sie Opfer sind. «Sucht und Gewalt dürfen nicht nur unter Erwachsenen diskutiert werden», sagt sie. «Betroffenen Kinder müssen wissen: Es ist nicht normal, was ich zu Hause erlebe.» Bedeutend für Kinder sei ein Vertrauensverhältnis zu einer erwachsenen Person. Wenn ein Erwachsener dessen Identität stärkt, gewinnt sie oft auch das Vertrauen. «Und Vertrauen ist nötig, damit ein Kind sich jemandem anvertraut.»
Grundsätzlich gilt es, Abhängigkeiten früh zu erkennen und Hilfe zu suchen. In der aktuellen Krisenzeit verstärken sich Suchtprobleme, Menschen werden dünnhäutig oder gar gewalttätig. Corona verstärke vieles. «Es ist eine belastende Zeit, wo gewisse Dinge sichtbarer werden», sagt Mike Sigrist. «Alkohol ist eine häufige Ursache von Gewalt», ist seine Erfahrung. «Er setzt die Hemmschwelle runter, was zu verbaler und physischer Gewalt führt.» Susanna Aerne bestätigt und zitiert eine Ärztin, die den Rat gab, gar nicht erst damit anzufangen, am Abend Alkohol zu konsumieren.
Wir müssen darüber sprechen – jetzt!
In letzter Zeit thematisierte Livenet den aktuell stark wachsenden Pornokonsum – ein Thema, welches in diesem Gespräch nur kurz angeschnitten wird. Der häufige Konsum von Pornografie kann, genauso wie Alkohol, Auslöser für Übergriffe sein. Mike Sigrist: «In den Medien ist Alkohol vielleicht nicht so präsent. Er ist einfach und legal erhältlich und kostet wenig. Doch er führt oft zu Abhängigkeit und Gewalt.» Und das Zerstörerische von Süchten nimmt unter pandemiebedingtem Stress zu.
Susanna Aerne betont mit Nachdruck, dass wir über diese Dinge sprechen müssen. «Wenn wir das nicht zum Thema machen, bleiben sowohl Opfer wie auch Täter alleine.» Oft müssen sich Täter erst bewusst werden, dass ihr Verhalten für ihre Mitmenschen ernsthafte Konsequenzen hat. Sie empfiehlt christlichen Gemeinden, Themen wie Sucht und Gewalt am Sonntagmorgen im Gottesdienst direkt anzusprechen. Zu einem Vortragsabend würden Betroffenen nämlich selten kommen.
Aufruf zu Zivilcourage
Es sei wichtig, problembehaftete Familien zu begleiten und ihnen Mut zur Veränderung zu machen. «Natürlich kommt der Punkt, an dem eine Gefährdungsmeldung ins Auge gefasst werden muss», sagt Susanna Aerne. Gerade wenn sexueller Missbrauch oder Gewalt an den Kindern vorliegt, gibt es wenig Spielraum. «Grundsätzlich gilt aber, mit der Familie einen Weg zu gehen.»
Mike Sigrist bestätigt: «Das Beste ist, wenn es gar nicht zum Schlimmsten kommt und man kritische Situationen früh angehen kann.» Er ermutigt, erkannte Sucht- und Gewaltprobleme im Umfeld nicht zu ignorieren. «Damit macht man sich selten beliebt. Man sollte auch keine verurteilende Haltung einnehmen. Es geht auch nicht darum, Therapeut zu spielen. Das Beste ist, auszudrücken: Ich habe dich gesehen, du bist nicht allein.»
Es brauche Mut, Dinge beim Namen zu nennen, welche das Gegenüber nicht gerne hört. Auch Susanna Aerne ermutigt zu Zivilcourage und erzählt, wie durch das mutige Einschreiten einer Nachbarin ein Problem früh erkannt und angegangen werden konnte. Indem wir aufeinander achten, könnten manche Probleme gelöst werden, bevor sie bedrohlich werden. Mike Sigrist wünscht sich, dass Menschen mehr aufeinander zugehen und es damit in seiner Berufssparte weniger Leute braucht.
Sehen Sie sich hier den ganzen Livenet-Talk über Sucht und Gewalt an:
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet