Eine Provokation

«Ihr regt euch über das Falsche auf…»

Christen beziehen zu allen möglichen Fragen Position. Gesellschaftliche Werte, Politik, Fragen der persönlichen Moral – all das wird beurteilt. Manchmal medienwirksam und öffentlich, manchmal ganz still in Gedanken. Doch immer wieder drängen sich dabei die falschen Themen nach vorne… – eine Provokation von Hauke Burgarth.

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Redaktor Hauke Burgarth
Tony Campolo (82) ist ein US-amerikanischer Soziologe und Pastor – und er liebt die Provokation. Man kann einer Meinung mit ihm sein oder ihn ablehnen, aber innerlich unbeteiligt zu bleiben, ist kaum möglich. Typisch für Campolos Auftritte als Redner ist ein Einstieg wie dieser:

«Drei Dinge möchte ich heute sagen. Erstens sind diese Nacht, während Sie geschlafen haben, 30'000 Kinder verhungert oder an Krankheiten gestorben, die mit Fehlernährung zusammenhängen. Zweitens kümmert das die meisten von Ihnen einen Scheissdreck. Und was das Schlimmste ist: Einige regen sich mehr darüber auf, dass ich gerade 'Scheissdreck' gesagt habe, als darüber, dass letzte Nacht 30'000 Kinder gestorben sind.»

Anders ausdrücken?

Als ich einen Blogbeitrag von Darell Lackey mit diesem Beispiel las, war mein erster Gedanke: Hätte er das nicht auch anders ausdrücken können? Na klar, das hätte er. Aber dann hätte ich nicht so schnell gemerkt, dass nicht nur andere Christen dazu neigen, sich über die falschen Dinge aufzuregen, sondern auch ich. Als Christen – gerade als Christen – ist unsere Empörung nämlich oft fehlgeleitet. Ich könnte jetzt als Entschuldigung anführen, dass ich nun einmal beruflich mit Sprache arbeite und mir der «Fehlgriff» Campolos deshalb so schnell aufgefallen ist. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsache ist, dass mir (und wahrscheinlich vielen von Ihnen) einfach der Fokus dessen verrutscht ist, was wirklich wichtig ist und was nicht. Wer oben nach dem Kraftausdruck einmal kurz die Luft anhalten musste, der ist willkommen im Club derer, die sich über das Falsche aufregen.

An dieser Stelle gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, ich behaupte, das alles wäre eigentlich nicht so gemeint und wir wüssten ja in Wirklichkeit alle, wie der Hase läuft. Das wäre nicht ehrlich. Das weiss ich und das wissen Sie. Oder ich zeige Ihnen und mir, dass unser Glaube noch wesentlich mehr Ausrutscher im Denken verursachen kann. Nicht, weil Glaube an sich dazu neigt, sondern weil unser Glaube sich fehlleiten lässt.

Echte Aufreger

Wenn Sie sich mehr darüber ärgern, dass Ihnen Passanten einen «schönen Vatertag» wünschen statt «gesegnete Himmelfahrt» als über Millionen von Menschen, die auch in unserer Nachbarschaft an der Armutsgrenze leben, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Wenn Sie sich über die Homo-Ehe oder darüber, dass Transgender-Menschen «Ihre» öffentliche Toilette besuchen, mehr aufregen als über die Diskriminierung, Anfeindung und Gewalt, die diese Menschen immer noch erfahren und die vielfach bis in Selbstmord und Mord hinein führt, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Wenn Sie sich mehr darüber ärgern, dass unsere heimische Kultur sich durch Zuzug von Geflohenen verändern könnte, als über die – mindestens teilweise von uns Westeuropäern mitverursachten – unwürdigen Lebensumstände in ihren Heimatländern, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Wenn Sie sich über rauchende oder Alkohol trinkende Menschen stärker aufregen als über solche, die masslos essen oder Unmengen an Lebensmitteln wegwerfen, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Wenn Sie sich mehr darüber ärgern, dass die Regierung scheinbar Ihre Freiheit als Christ immer stärker einschränkt, als darüber, dass dasselbe auch mit anderen Religionsgemeinschaften geschieht – und Sie dies vielleicht noch unterstützen würden –, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Wenn Sie sich darüber aufregen, wenn Menschen Ehebruch begehen oder im sexuellen Bereich sündigen, es Sie aber kaum stört, dass andere darüber reden, sie beleidigen, verletzen oder in Gedanken bereits die Steine zum Steinigen aufheben, dann regen Sie sich über das Falsche auf.

Nicht an Nebensächlichkeiten aufhängen

Wenn Sie jetzt denken: Okay, ich hab's verstanden, aber… dann haben Sie mein Anliegen gleichzeitig missverstanden und den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich kann man sich – zu Recht oder zu Unrecht – über Missstände ärgern. Doch oft lenkt uns das Unbehagen darüber von den Dingen ab, über die wir uns wirklich aufregen sollten. Oder es verdeckt die Gnade, die Gott längst darüber ausgebreitet hat. Das Ganze ist ein bisschen wie eine Hassparole, die auf einem Transparent steht – mit einem Schreibfehler darin. Ich kann mich darüber ärgern, dass «hassen» mit Eszett statt Doppel-S geschrieben wurde – oder ich realisiere, wie destruktiv die Parole ist und beziehe hier Stellung. Ich weiss, dass es im Einzelfall kompliziert sein kann, mich nicht über Nebensächlichkeiten aufzuregen. Aber ich weiss, dass ich das nicht möchte. Und Sie?

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Erfolg durch Provokation?

Datum: 12.07.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Patheos

Kommentare

(2) Das hat keinen Zusammenhang mit Anfeindung und Gewalt gegen Homosexuelle, was selbstverständlich abzulehnen ist. Sicher: Die Speerspitzen linksgrüner Empörung (auch die neulich in Hamburg tätigen) würden sich gewiss kräftig über die hier aufgeführten Empörungen empören. Das darf für konservative Christen aber kein Grund sein, vor dem Egoismus in der Gesellschaft die Augen zu verschliessen. Dazu braucht man aber keine bibelkritische oder linksgrüne Brille aufzusetzen.
(1) Wer sich worüber aufregt, hängt entscheidend vom theologischen und politischen Standpunkt ab. Regt sich Tony Campolo als Vertreter der Religiösen Linken (Red Letter Christians) und Befürworter der Homo-Ehe auch über die täglich 130'000 abgetriebenen Kinder auf, oder kümmert ihn dies einen Sch…, weil darüber nichts in den rot gedruckten Jesus-Worten steht? Apropos Homo-Ehe: schlechtes Beispiel. Niemand, der das ganze Wort Gottes (auch das schwarz gedruckte) ernst nimmt, muss sich seiner Empörung z.B. über Frau Merkels kaltschnäuzige Ermöglichung der Homo-Ehe schämen. Livenet berichtete auch über Nicht-Christen, die gute Gründe gegen die Homo-Ehe haben.

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