Manfred Lütz
Leben wir in einer «gefälschten» Welt?
Einer der Hauptreferenten beim Forum christlicher Führungskräfte in Bern ist der Kölner Theologe, Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz. Er will die Scheinwelten um uns herum entlarven, damit wir das echte Leben nicht verpassen.
Herr Professor Lütz, Sie sprechen von einer religiös ausgetrockneten Gesellschaft, die ihre christlichen Wurzeln gekappt hat. Wo müssten Gemeinden ansetzen, um das Land neu zu wässern?
Ich habe in meinem neu überarbeiteten Buch «Der blockierte Riese» moderne, ressourcenorientierte Methoden der Psychotherapie auf die Situation der Kirche angewandt. Mir geht es da vor allem darum, mal genauer hinzuschauen, wo schon viel Gutes passiert.
Wo passiert denn Gutes?
Unsere evangelischen Mitchristen machen zum Beispiel tolle Evangelisierungskampagnen. Davon können wir manchmal etwas behäbigen Katholiken viel lernen. Andererseits gibt es ausgehend von Deutschland eine Gebetsbewegung in der katholischen Kirche, «Nightfever», wo sich vor allem junge Menschen in zahlreichen deutschen Städten und inzwischen über 30 Ländern weltweit zur Anbetung Gottes treffen und bei leiser, Taizé-artiger Musik beten. Meine Frau hat das bei uns im Dorf begonnen. Da kommen manchmal doppelt so viele Menschen wie zum Sonntagsgottesdienst. Denn die Menschen wollen beten. Die haben eine Krebsdiagnose, das Kind ist gestorben, die Ehe ist kaputt. Wo sollen sie bei solchen Katastrophen denn hingehen, wenn nicht zu Gott? Wir reden in unseren Kirchen manchmal über Dinge, die zweit- und drittrangig sind, und nicht über das Wesentliche: Nämlich, dass Gott eine Beziehung zu uns möchte und wir uns direkt an ihn wenden dürfen.
Wenn man erlebt, wie viel Falsches über eine andere Partei schon in einem halben Jahr Wahlkampf behauptet wird, dann ist es kein Wunder, dass nach 2000 Jahren «Wahlkampf» gegen die Christen heute unheimlich viel hanebüchener Unsinn über das Christentum geglaubt wird. Da will das Buch aufklären. Jede Wette, dass fast alles, was Ihnen Leute in der Fussgängerzone über Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Inquisition und den Fall Galileo Galilei erzählen werden, historisch schlicht falsch ist. Theologische Anbiederungsversuche nach dem Motto «2000 Jahre ist das Christentum in die Irre gelaufen, doch dann kam ich, der Professor» laufen ins Leere, weil jeder gescheite Atheist doch dann nur antworten kann: «Dann warten wir nochmals 2000 Jahre, ob es jetzt wirklich besser wird.» Wenn wir Christen nicht klarmachen, dass es in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums zwar Fehler und Sünden gegeben hat, es alles in allem aber wirklich eine Heilsgeschichte war, dann werden wir niemanden überzeugen.
In «Bluff!» stellen Sie die These auf, dass wir in einer Scheinwelt leben, deren Fassaden uns den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge verstellen. Wer hat diese Scheinwelt denn errichtet? Und welches Interesse liegt hinter der Fälschung der Welt?
Ich habe seit Langem das Gefühl, dass viele Menschen Gefahr laufen, ihr eigentliches Leben zu verpassen. «Bluff!» betrifft jeden. Denn ich glaube, dass wir alle heute in gefälschten Welten leben, wie in einem riesigen Potemkinschen Dorf. Egal, ob in der Welt der Wissenschaft, der Finanzwelt oder der Medienwelt: Ständig sind wir von mächtigen, unter anderem ökonomischen Interessen umgeben, die uns in diesen virtuellen Welten festhalten wollen. Niemand entgeht dieser Sogwirkung ganz. Doch es wäre eine Tragödie, wenn uns am Ende unserer unwiederholbaren, begrenzten Lebenszeit auffallen würde, dass wir vergessen haben, selber zu leben. Deswegen habe ich «Bluff» geschrieben.
Sie behaupten, Menschen begegnen Gott auch deshalb nicht mehr, weil sie zunehmend in künstlichen Welten leben...
Wir leben tatsächlich zunehmend in künstlichen Welten der Wissenschaftswelt, der Psychowelt, der Medienwelt, der Finanzwelt. Das sind nützliche Welten, doch in diesen Welten kommen die existenziellen Erfahrungen – die Erfahrung von Liebe, Gut und Böse und Gott – nicht vor. Wenn wir aber diese Welten für realer halten als unsere eigene, unwiederholbare, kurze Lebenszeit, dann laufen wir Gefahr, unser eigentliches Leben zu verpassen. In den Medien können zum Beispiel nur Personen vorkommen, die theoretisch irgendwann mal bei einem Talkmaster auf dem Sofa oder auf dem heissen Stuhl sitzen könnten. Da Gott das nicht kann, hält jemand, der ganz in der Medienwelt lebt, Gott natürlich für unwirklich. Er lebt sozusagen im falschen Film.
Es kann aber doch nicht nur am Auftreten der Kirchen in den Medien liegen, dass die evangelische und die katholische Kirche seit Jahren Mitglieder verlieren, sich aber gleichzeitig immer mehr Menschen ihre eigene Flickenteppich-Religion zusammenbasteln. Was macht den christlichen Glauben so unattraktiv?
Wenn ich Freiheit rein individualistisch missverstehe, dann ist natürlich alles, was einen Anspruch an mich hat, etwas Irritierendes. Und Religion ist der Anspruch Gottes an uns. Das ist nicht immer angenehm. Wenn man hingegen tun und lassen möchte, was man will, dann ist es naheliegend, dass man sich aus seinen eigenen unausgegorenen Vorstellungen irgendeine harmlose Religion zusammenzimmert, um sich irgendwie zu beruhigen. Doch in wirklich existenziellen Krisen können diese bunten, selbstgebastelten Plastikflugzeuge niemanden tragen. Wenn Eltern ihren Kindern dagegen den christlichen Glauben vermittelt haben, dann mögen die Kinder sich später auch mal eine Auszeit davon nehmen. In existenziellen Krisen werden sie sich daran erinnern. Daher ist ein Flickenteppich-Glaube keine wirkliche Konkurrenz für das Christentum. Das ist Kirmes.
Bedeutet das für die Erziehung nicht auch: Zurück zum Auswendiglernen, um später im Leben über eine geistliche eiserne Reserve zu verfügen?
Unbedingt. Ich weiss von einem Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe (eine frühere terroristische Organisation in Deutschland, Anm. d. Red.), das in Todesnot einen christlichen Freund anrief und ihm das Fragment eines Gebets sagte, das er noch aus der Kindheit kannte. Es war das «Ave Maria». Andere Menschen erinnern sich etwa an Psalm 23 oder an das «Vater Unser».
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Autor: Matthias Pankau
Quelle: idea