Auch wenn ich keine Lust habe
Warum ich trotzdem wieder in den Gottesdienst gehe
Sie war eine von denen, die Gott lieber auf der Strasse statt in einem Gebäude dienten. Gottesdienste wurden ihr weltfremd und überflüssig. Warum Trudy Smith aus Vancouver heute trotzdem wieder in eine Gemeinde geht.
Ich habe die gleichen Kindheitserinnerungen an eine Gemeinde wie viele andere Evangelikale: Biblische Geschichten, Sonntagsschullehrer und Lobpreislieder auf dem Overheadprojektor. Von klein auf war die Gemeinde ein Fixpunkt in meinem Leben. Manchmal war ich gelangweilt und manchmal genoss ich es – aber ich ging einfach zu Gemeinde, denn jeder tat es.
Ich wurde ein bisschen älter und merkte, dass nicht jedermann zur Kirche ging; aber für mich war der Gottesdienst irgendwie ein moralisches Gebot. Es bedeutete, dass ich meinen Glauben ernst nahm, ein guter Mensch war und Gott glücklich machte (zumindest seinen Zorn vermied). Als ich in die Jugendgruppe ging, kamen weitere Faktoren dazu: in der Gemeinde waren meine Freunde und die süssen Jungs, und hier fand der grösste Teil meines sozialen Lebens statt.
Dann kam ich ins College. Meine Eltern nahmen mich nicht mehr in den Gottesdienst mit, und die Gemeinde war nicht mehr der Mittelpunkt meines sozialen Lebens; aber ich sah es immer noch als eine Notwendigkeit, in die Gemeinde zu gehen, wenn ich Jesus nachfolgen wollte. Wo anders konnte ich in meinem Glauben wachsen und geistliche Gemeinschaft finden?
Jesus auf den Strassen
In den nächsten Jahren geschah etwas Seltsames. Ich folgte Jesus aus der Gemeinde hinaus und auf die Strassen nach; ich hatte Gemeinschaft mit Obdachlosen über einem Stück Pizza, und ich hörte ganze Predigten in den Worten der Leute im Obdachlosenheim, wo ich am Sonntagmorgen das Frühstück servierte. Jesus tauchte an allen möglichen unwahrscheinlichen und inoffiziellen Orten auf.
Ich war weiterhin mit anderen Christen unterwegs, aber ich verstand nicht mehr, warum man sonntags zu Gemeinde gehen musste. Irgendwie schien es mir fast wichtiger, Menschen am Sonntag zu dienen, statt einfach nur meinen Platz in der Kirche zu füllen: ihnen zuzuhören, mit ihnen zu weinen, mein Essen mit ihnen zu teilen und zusammen mit ihnen für Gerechtigkeit einzutreten. Und je mehr ich über Armut und Ungerechtigkeit des Systems lernte, umso mehr frustrierten mich Kirchen, deren wöchentliches Programm so völlig isoliert war von der Welt ausserhalb ihrer Mauern. Das viele Gebet ohne Aktion wurde mir zuwider, ebenso wie simple geistliche Formeln ohne die Botschaft, die Jesus wirklich predigte: Gute Nachricht für die Armen, Freiheit für die Gefangenen, Augenlicht für die Blinden. Ich verlor die Hoffnung, dass die Kirche es jemals schaffen würde, diesem Jesus zu gleichen.
Das neue Bild von Kirche
Aber dann geschah wieder etwas Seltsames. Ich folgte weiter Jesus nach, und allmählich führte er mich zurück in eine Gemeinde. Ich war überrascht. Es gab eine Menge Leute da, die für Gerechtigkeit arbeiteten, aber ich merkte langsam, dass die Gemeinde nicht der Ort ist für Menschen, die ihr Leben im Griff haben und alles richtig machen. Sie wurde mehr zu einem Zufluchtsort, wo alle möglichen Leute zusammenkommen und wo wir uns an die Geschichte erinnern, in der wir alle leben – die Geschichte, wie Gott uns liebt, unsere Welt und auch unser Leben erneuert trotz all dem Schaden, der geschehen ist. Es war fast wie eine Schule, wo wir alle durch die ersten Lektionen stolperten, wie man Liebe lernt.
Wir sangen von seiner Liebe und seinem Auftrag, dem wir dienten. Wir schauten einander in die Augen. Bekannten unsere Sünden. Teilten Brot und Wein und erinnerten uns daran, dass wir alle zu dieser dysfunktionalen Familie gehörten, die Gott zusammengewürfelt hat. Es war nicht vollkommen – ich war manchmal frustriert, gelangweilt oder verletzt – aber es war gut, und Gott war drin. Jawohl, Gemeindechristen konnten apathisch, richtend oder selbstsüchtig sein, aber das war ich ja auch. Und wie alle anderen brauchte ich sowieso das Gefühl, dass ich willkommen und geliebt bin.
Die Aufgabe
Eines Tages kam eine ältere Dame und fragte uns für eine kleine Aufgabe in der Gemeinde an. Wir waren immer noch «die Neuen» und sie wollte uns sicher zum regelmässigen, pünktlichen Gemeindebesuch motivieren – und ihr Plan funktionierte. Durch dieses kleine Stück Verantwortung merkten wir, wie viele Leute regelmässig da sein müssen, dass dieser einladende und Gott anbetende Raum, genannt «Gemeinde», jede Woche existierte. Wenn jeder Worshipleiter, Tontechniker, Sonntagschulmitarbeiter oder Prediger nur auftauchen würde, wenn er oder sie sich nicht gestresst, beschäftigt, müde, gelangweilt, traurig, frustriert fühlen oder sich von den schönen Wetter draussen verlocken liesse – wir hätten überhaupt keine Gemeinde.
Langsam lernte ich so, dass «zur Gemeinde gehen» mehr ist als eine moralische Vorschrift; das Motiv ist nicht Angst vor Strafe, sozialer Kontakt, geistliche Nahrung, nicht einmal nur Gleichgesinnte zu finden, mit denen man in der Welt Gerechtigkeit anstrebt. An der Gemeinde teilnehmen bedeutet, dass ich mithelfe, den Raum zu schaffen, in dem wir die Gnade Gottes zusammen erleben, zusammen lernen, versagen, vergeben und vorwärts stolpern.
Der Fokus ändert sich
Ich habe davon profitiert, dass mich zahllose Christen mit grossem Engagement und Beständigkeit über die ganzen Jahre in der Gemeinschaft willkommen geheissen haben, und jetzt weiss ich mich eingeladen, das gleiche für andere zu tun: diesen Raum offen zu halten selbst an Tagen, wenn ich persönlich nicht davon profitiere. Wenn wir die Lieder nichts mehr sagen, wenn ich nicht mit Leuten über meine schwierige Woche reden möchte, oder wenn ich stattdessen lieber schlafen würde – auch dann gehe ich heute zur Gemeinde.
Es ist nicht, weil Gott oder irgendjemand mich nach meinem Gottesdienstbesuch beurteilt. Aber es ist eine Chance für mich, für die Leute, die mit mir hier unterwegs sind, Gemeinde zu sein. Eine Chance, einen Raum aufzuhalten, dass andere Gott begegnen können – und auch in mir einen Raum aufzuhalten, dass ich Gott begegne mitten unter den Leuten, die meine Gemeinde sind - oft wenn ich es am wenigsten erwarte.
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Relevant Magazine