Die Kopftuch-Debatte
Wie gehen Christen mit religiösen Symbolen um?
Die Schule in Bürglen TG darf muslimischen Schulmädchen nach dem Urteil des Bundesgerichts nicht verbieten, ein Kopftuch zu tragen. Welche Schlüsse sind daraus aus christlicher Sicht zu ziehen?
Das Tragen eines Kopftuchs gilt streng religiösen Muslimas als Menschenrecht und als Ausdruck von Religionsfreiheit. Liberalen Musliminnen und Feministinnen dagegeh als Zeichen der Unterdrückung der Frau durch die Männer und die Religion. Sie fürchten, dass der radikale Islam durch das Bundesgerichtsurteil gestärkt wird. Repräsentiert wird diese Meinung durch die aus Tunesien stammende Saida Keller-Messahli, welche für einen modernen und moderaten Islam in der Schweiz eintritt. Umgekehrt freut sich Rifaat Lenzin, Vorstandsmitglied der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz, über die Wahrung der Religionsfreiheit durch das Bundesgericht.
Das Urteil ist auch aus christliche Sicht bedeutender, als es auf den ersten Blick aussieht. Auch unter Christen gibt es dazu unterschiedlich Interpretationen. Die einen werden bedauern, dass das Bundesgericht ein muslimisches religiöses Symbol in der öffentlichen Institution Schule schützt, das manchen ein Ärgernis ist. Andere werden den Schutz der Religionsfreiheit hervorheben, der in diesem Fall eben Muslimen zugute kommt.
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Das Bundesgericht wird je länger desto weniger zwischen Islam und Christentum unterscheiden, wenn es um die Toleranz von religiösen Symbolen in Schulen und im öffentlichen Raum geht. Das Kruzifix in Walliser Schulen lässt grüssen. Am 18. März 2012 entschied der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Strassburg nach längerer Auseinandersetzung in Italien, dass Kruzifixe in Schulen weiterhin hängen dürfen. Laut dem ehemaligen Bundesrichter Giusep Nay ist das Urteil auch für die Schweiz verbindlich.
Religiöse Symbole sind immer eine Zumutung für einen Teil der Bevölkerung. Für Atheisten zumal, die sich öfter und lauter zu Wort melden. Muslimische Symbole wie Kopftücher oder Minarette sind vielen Christen anstössig. Sie symbolisieren nicht nur eine antichristliche Religion, sondern auch eine fremde Kultur.
Doch Christen tun gut daran, nicht an vorderster Front für das Verschwinden solcher Symbole zu kämpfen. Sie riskieren damit einen Bumerang-Effekt, wenn Atheisten und Säkularisten mit Berufung auf die Trennung von Staat und Religion für die Abschaffung aller religiöses Symbole im öffentlichen Raum plädieren – zum Beispiel für die Entfernung der Gipfelkreuze – und wenn nötig vor Bundesgericht gehen. Ob dieses auch in Zukunft generell die Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum als Ausdruck der Religionsfreiheit sieht, ist ungewiss. Christliche Gruppen Organisationen und Parteien tun somit gut daran, nicht am Ast zu sägen, auf dem sie sitzen.
Zum Thema:
Wie tolerant sollen Christen sein?
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet