Evangelische Allianz
Wie tolerant sollen Christen sein?
Der Toleranz-Gedanke gehört zu den wertvollsten Errungenschaften Europas. Doch Christen leiden oft unter Intoleranz und werden beschuldigt, zuwenig tolerant zu sein. Was dürfen sie an Toleranz erwarten – und wo müssen sie toleranter werden?
Mit dem spannenden Thema beschäftigte sich die Delegiertenversammlung der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) am Freitag in Zürich. Hintergrund der Themenwahl sind Tendenzen in der Gesellschaft, welche christliche Gruppen und christliches Gedankengut an den Rand drängen.
An der Veranstaltung gab der ehemalige Rektor und Dozent für Kirchengeschichte am Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau (TDS), Peter Henning, einen spannenden Einblick in die Geschichte des Toleranzgedankens. Sie beschäftigte seit dem Mittelalter Denker wie Nikolaus von Kues, Lessing, Erasmus von Rotterdam, aber auch christliche Gruppen wie die Täufer. Ein Höhepunkt der Entwicklung ist der Toleranzartikel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, welche den Anspruch jedes Menschen auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit festhält.
Gottesbezug in Europa verdunstet
Aktuell beobachtet Henning aber eine Ideologisierung der Toleranz, die zum Teil in einer antireligiösen Aggression mündet. Ein Grund dafür sei die «Verdunstung» des Gottesbezugs in der europäischen Gesellschaft, die sich in rasantem Tempo vollziehe. Immer öfter würden jetzt religionsfreie Räume eingefordert. Sie seien für den Frieden in der multireligiösen und multikulturellen Welt nötig. Toleranz werde nun definiert als «Freiheit von Religion» statt als «Freiheit für die Religion». Damit aber könne die Toleranzforderung zum Feind der Toleranz werden, so Henning.
Wer Toleranz fordert, muss tolerant sein
Gegen eine solche «fundamentalistische Toleranzideologie» müssten sich Christen wehren, wenn sie eine Toleranz meinen, die ohne Bezug zu transzendenten Grundwerten alles tolerieren und erlauben solle. Genuin christlich sei jedoch die Religions- und Gewissensfreiheit. Und diese habe für Christen klare Folgen: «Wir fordern für uns Toleranz und respektvollen Umgang, und wir 'tolerieren' ebenso respektvoll Andersgläubige, Atheisten und Agnostiker unter Vermeidung jeder abschätzigen Verurteilung dessen, was uns fremd, ungewohnt oder komisch vorkommt.» Dies habe auch die Europäische Evangelische Allianz in einer «Globalen Charta der Gewissensfreiheit» so festgehalten.
Wo Selbstkritik und wo Widerstand angebracht ist
Zweitens sollten Christen den Glauben frei bezeugen, aber auch respektvoll mit den Gegnern reden und ihre Überzeugungen in die Gesellschaft einbringen. Sie müssten einen Kommunikationsstil und eine Dialogkultur entwickeln, welche gleichzeitig die Aussagen des Neuen Testaments und die Menschenwürde des Gegners beachte. Gerade auch dann, «wenn wir kritisch intolerant protestieren müssen».
Im Blick auf Kritik an christlichen Gruppen oder Organisationen gab Henning zu bedenken: «Wenn wir jedoch als intolerante Sektierer hingestellt werden, sollten wir selbstkritisch nach der Ursache für dieses Image fragen. Christen könnten aber nie tolerieren, wenn grundsätzlich eine Freiheit von der Religion und vom Christentum gefordert werde. Sie müssten dann mit passivem (leidendem und mitleidendem) Widerstand reagieren. Denn solche Intoleranz führe immer wieder zu unmenschlichen Systemen, in denen dann auch Christen eine bedrängte Minderheit sind.»
Vor jeder «Antwort» wäre jedoch zu bedenken, welche Reaktion angemessen ist: Es könne sich dabei um Schweigen, Nichtbeachtung, Protest, öffentliche Verteidigung, multimediale Richtigstellung oder Anklageerhebung handeln.
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet