Nigeria, Iran, Bosnien, Ukraine
Ein offenes Haus in St. Silvester
Seit vielen Jahren hat Esther Köppel ein Herz für Menschen aus aller Welt. Dass sie trotz Erschöpfungsdepression Flüchtende aus der Ukraine bei sich zu Hause aufnimmt, kommt nicht von ungefähr.
Esther Köppel (*1967) und ihr Ehemann Urs (*1964) leben in St. Silvester (Freiburger Oberland) und haben ein Herz für Menschen aus aller Welt. In den letzten Jahrzehnten gingen Menschen aus mehr als 70 Nationen bei ihnen ein und aus. Dass sie im März 2022 Flüchtende aus der Ukraine aufnahmen, war für sie ein naheliegender Schritt.
Von einem Traum zur Arbeit mit Migranten
Vier Jahre nach ihrer Hochzeit, entdeckten Esther und Urs im Jahr 1991 den christlichen Glauben und dadurch eine persönliche Beziehung mit Gott. «Damals haben wir Gott unser Haus geweiht und darum gebetet, dass er das Haus mit seinen Kindern füllt.» In den folgenden Jahrzehnten sollte das Gebet erfüllt werden.
«Im Mai 1999 hatte ich einen Traum», erinnert sich Esther. «In diesem Traum fragte mich eine Asylantin, weshalb ich ihr nicht helfen würde.» Der Traum liess ihr keine Ruhe mehr und irgendwann bot sie ihre Hilfe dem Roten Kreuz an. Eine Möglichkeit zum Anpacken ergab sich nicht, doch dann, ein halbes Jahr später, tauchte plötzlich ein nigerianischer Flüchtling in ihrer Kirche auf. Das war ihr erster Kontakt mit einem Asylsuchenden und öffnete die Möglichkeit, Englisch zu lernen. Kurz darauf traf sie eine iranische Familie. Als Arzt versuchte der Vater vergeblich, Arbeit zu finden. Einen Tag, nachdem Köppels für sie gebetet hatten, erhielt er einen Job als Assistenzarzt. Das erschien ihnen wie ein Wunder.
«Im November 2004 lernte ich eine bosnische Familie kennen. Dadurch lernte ich die bosnische Sprache.» Obwohl die Familie sechs Monate später nach Bosnien-Herzegowina zurückkehrte, blieb der Kontakt bestehen. 2006 besuchten Esther und Urs die Leute in ihrem Heimatland. «Mit der Familie sind wir bis heute freundschaftlich verbunden und seither folgten mehr als 30 Reisen nach Bosnien-Herzegowina.»
Arbeit unter internationalen Studenten
Bis 2008 machte Esther viele Einsätze im Asylzentrum und half beim Aufbau einer Arbeit unter Asylanten mit. «Wir kochten Essen, spielten mit den Kindern und förderten Gemeinschaft.» Dann fand sie als Betreuerin internationaler Studenten ihren Traumjob. Voller Begeisterung arbeitete sie für die VBG (Vereinigte Bibelgruppen), erlitt 2015 jedoch einen Zusammenbruch.
«Bei einer Weihnachtsfeier brach ich aus unerklärlichem Grund zusammen.» Jegliche Termine musste sie absagen. «Als ich nur noch schlotterte, ging ich zum Arzt und wurde krankgeschrieben.» Neun Monate blieb sie zu Hause und begann dann langsam wieder zu arbeiten; anfänglich mit zehn Prozent, dann erhöhte sie langsam und erreichte 2018 40 Prozent. Doch da kam der zweite Zusammenbruch und sie musste ihre geliebte Arbeit aufgeben. In den folgenden Jahren konnte Esther kaum Menschen treffen, was für sie als Beziehungsmensch extrem schwierig war.
Ein neuer, altbekannter Arzt
«Seit 2018 ist der bekannte Iraner einer meiner behandelnden Ärzte», erzählt Esther. Ihr Hausarzt konnte eine der Ursachen für Esthers Erschöpfung finden. «Man fand heraus, dass ich starke Schlafapnoe gehabt und nachts viel zu wenig Sauerstoff erhalten hatte.» Die Diagnose eines Lungenspezialists war schockierend. «Noch nie hatte er eine Frau mit derart starken Apnoe erlebt. Ich hatte bis 55 Apnoen pro Stunde und diese dauerten bis zu einer knappen Minute.» Die Sauerstoffsättigung lag bei 70 Prozent und auch das Herz war in Mitleidenschaft gezogen worden. Später wurden weitere gesundheitliche Probleme diagnostiziert. Durch Medikamente und eine Nahrungsumstellung konnte der Zustand schliesslich stabilisiert werden. Nun ging es langsam aufwärts.
Neue Tätigkeiten
«Von 2018 bis heute spielte sich mein Leben vor allem zu Hause ab», beschreibt Esther ihren aktuellen Lebensabschnitt. Sie vergrösserte den Garten und hatte Freude an der entsprechenden Arbeit. Sie lernte viel, probierte Neues aus und irgendwann begann sie, ihr Wissen mit anderen Menschen zu teilen. So führte sie beispielsweise einen Kurs übers Konservieren von Lebensmitteln durch. Esther begann auch zu malen und konnte ihre Bilder vereinzelt an Ausstellungen zeigen.
Nachdem die zwei Töchter ausgezogen waren, lebten Esther und Urs alleine in ihrem grossen Haus mit neun Zimmern. Selbst als das Studio vermietet wurde, blieb noch mehr als genug Platz für ein Ehepaar. Während der Coronajahre lebte ein Flüchtling aus Afghanistan bei Köppels. Nachdem er ausgezogen war, blieb das Studio einige Monate leer. Gastgeber für Menschen aus aller Welt zu sein, gefällt Esther immer noch sehr.
Als ein Bekannter von Köppels nach Gastgebern für Flüchtende aus der Ukraine suchte, war Esther sofort dabei. «Für Urs und mich war sofort klar, dass wir Zimmer zur Verfügung stellen würden.» Dass Esther Jahre zuvor Bosnisch gelernt hat, ist ihr jetzt von grossem Nutzen, denn Bosnisch und Russisch sind verwandte Sprachen. «Und wenn wir uns zu wenig verstehen, hilft der Google-Übersetzer.»
Flüchtende aus der Ukraine
Es dauerte nicht lange, bis Ukrainerinnen bei ihnen ankamen. Eine Mutter floh mit ihrer sechsjährigen Tochter, während ihr Ehemann und der achtzehnjährige Sohn zurückblieben. «Die Angst dieser Frau um ihre Angehörigen ist tragisch.» Ebenfalls Zuflucht bei Köppels fand die Cousine der erwähnten Frau. Diese steht in Kontakt mit ihrer Schwester, die mit mehreren Familienangehörigen an der ungarischen Grenze stecken geblieben ist. Würden sie einen sicheren Ort erreichen? Und wie konnte da vielleicht geholfen werden?
Esther ist sich bewusst, dass sie auf ihre Kräfte achten muss. Sie will aber Anpacken, denn aus Vorsicht nichts zu tun, ist für sie keine Option. «Es tut allen gut, Menschen zu helfen.» Dabei staunt sie über die grosse Solidarität der Bevölkerung und nimmt gerne Hilfe an.
Eine schier unvorstellbare Haltung der Solidarität
«Die Leute kamen fast ohne Gepäck bei uns an», berichtet Esther. «So postete ich in einer Facebook-Gruppe eine Liste aller benötigten Dinge.» Die Liste umfasste Dinge wie Fahrräder und Betten, aber auch Schuhe, Kleider und vieles mehr. «Nur gerade eine halbe Stunde später war alles Material zusammen – fast ausschliesslich von Menschen, die ich überhaupt nicht kannte.» Esther ist äusserst positiv überrascht von der Hilfsbereitschaft der Schweizer. «Alle Spender brachten das Material bei uns vorbei.»
Esther ist überzeugt, dass Schenkende und Helfende durch ihr Handeln selbst beschenkt werden. Sie glaubt sogar, dass durch diese Solidarisierung mit den Ukrainern manche Corona-Wunden heilen können. Doch trotz der grossen Unterstützung galt es, vieles zu organisieren. Dabei ist sie zutiefst dankbar. Zu sehen, wie irgendwelche Menschen mit den richtigen Dingen zur rechten Zeit bereitstehen, lässt Esther einmal mehr die Realität eines liebenden Gottes erkennen. «Wir erhielten beispielsweise exakt das Bett, welches ich mir gewünscht hatte.» In einer Metzgerei können sie gratis Fleisch holen. «Die Situation war bislang keine grosse finanzielle Belastung für uns. Ich staune, wie Gott uns versorgt.»
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet