Bibellesen

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Über 6'500 junge Leute beschäftigen sich in der Altjahreswoche am PraiseCamp in Basel mit der Bibel. In der Einladung steht: «Gottes Wort leuchtet uns den Weg durch den Dschungel des Lebens und ist unser Glaubens-Kompass.» Doch wie können wir gut mit dem Kompass umgehen? BewegungPlus-Theologe Thomas Eggenberg hat dazu ein paar Tipps.

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Magazin «BewegungPlus Online: Ein guter Christ liest täglich die Bibel. Sagt man. Aber Hand aufs Herz: Ist das Wunschdenken oder Wirklichkeit?
Thomas Eggenberg: Das ist ein Ideal, das für viele Christen wohl nicht zutrifft – für mich persönlich ja auch nur teilweise. Darauf bin ich zwar nicht stolz, aber ein schlechtes Gewissen hilft auch nicht weiter. Ich denke, wir dürfen uns neu darauf besinnen, dass Gott durch die Bibel zu uns spricht. Es ist eigentlich einfach: Wenn ich die Bibel lese (oder höre), kann Gott auch durch sie zu mir sprechen. Wenn ich sie nicht lese, kann er das nicht – auch wenn er auf andere Weise zu mir spricht. Insofern macht es Sinn, die Bibel täglich zu lesen. Und Gott einzuladen, dass er zu uns spricht. Und zu warten, zu fragen, und nicht aufzugeben. Und neue Wege zu suchen, Gott durch die Bibel zu mir sprechen zu lassen.

Für viele geht es mit dem Bibellesen wie mit dem Sport. Es täte mir gut, ich sollte, möchte, würde ja – und tue es doch nicht. Wieso?
Einige sind diszipliniert, andere weniger, je nach Willenskraft und Persönlichkeit. Aber der Vergleich mit dem Sport hinkt. Beim Bibellesen geht es nicht primär darum, selbst aktiv zu sein und eine Leistung zu bringen. Sondern es geht darum, auf Empfang zu stellen und zu hören. Habe ich die Einstellung: «Ich will hören, was Gott mir zu sagen hat»? Möglicherweise liegt hier der tiefere Grund, dass wir die Bibel nicht lesen. Wir mögen nicht zuhören, wir wissen schon alles, wir haben gar keinen Hunger nach dem, was Gott zu sagen hat.

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Thomas Eggenberg
Täuscht die Wahrnehmung oder war früher diesbezüglich tatsächlich alles besser?
Es war nicht alles besser, aber Bibellesen war früher bestimmt einfacher. Das Lesen von Texten hat heute allgemein einen schweren Stand. Das gilt erst recht, wenn ein Text anspruchsvoll ist, was in der Bibel ab und zu vorkommt. Wir werden von Informationen überflutet, Bilder werden immer wichtiger, Texte immer einfacher – siehe «20 Minuten» oder die Kommunikation in Chats. Jugendliche schauen lieber Video-Clips, als dass sie Texte lesen. Aber auch für die ältere Generation ist es einfacher, die Tagesschau zu sehen, als die Bibel zu lesen. Kreative Bibel-Apps bieten hier neue Möglichkeiten.

Wenn ich bei der Google-Suche eingebe «Die Bibel ist ...», kommt an oberster Stelle der Ergänzungsvorschlag «... ein Märchenbuch». Die Bibel hat ein Image-Problem. Auch bei uns Christen?
Ich denke nicht, dass es sich in unseren Kreisen um ein Image-Problem handelt. Viele wissen doch, dass die Bibel wichtig und wahr ist. Aber die Erfahrung beim Lesen ist dann oft eine andere. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass unser Umgang mit der Bibel oft rationalistisch geprägt ist? Wir analysieren, reflektieren, versuchen zu verstehen und erklären – statt einfach das Geschriebene wirken zu lassen. Die Bibel ist ja ein äusserst faszinierendes Buch, mit so vielen spannenden Facetten. Da gibt es vieles wieder zu entdecken, und gerade wir Theologen könnten dabei eine Hilfe sein. 

Und wie glaubwürdig ist unsere Auslegung der Bibel? Früher durfte in der BewegungPlus beispielsweise keine Frau auf die Kanzel. Heute legt man die entsprechenden Bibelstellen komplett anders aus. Ja, was denn nun?!
Ich sehe das nicht negativ. Nehmen wir das angesprochene Beispiel: Ich war selbst in früheren Jahren eher auf der einschränkenden Seite, und ich bin noch heute der Meinung, dass Unterschiede bestehen zwischen Mann und Frau, beispielsweise hinsichtlich ihrer Verantwortung. Gleichzeitig werden wir dem Anliegen der Bibel nicht gerecht, wenn wir weder die damalige noch die heutige Situation miteinbeziehen. Glaubwürdig ist unsere Auslegung dann, wenn wir die Zielrichtung der Bibel ernst nehmen, und dazu gehört, dass Frauen und Männer gemäss ihrer Begabung und Berufung dienen sollen.

Heute heisst das Zauberwort «historischer Kontext». Zieht man damit der Bibel nicht einfach alle Zähne?
Wir müssen die Bibel nicht «biblischer» machen, als sie ist. Es geht doch darum, Texte mit ihrem jeweiligen Anliegen, ihrer Aussage und Funktion zu verstehen. Wenn wir dies tun, kommen wir nicht darum herum, den historischen Kontext zu beachten. Darin bestehen gerade die «Zähne» der Bibel, dass ihre Texte nicht abstrakte Wahrheiten beinhalten, sondern konkrete Menschen und Situationen beschreiben, ansprechen und verändern wollen. Ja, die «Zähne» der Bibel können sogar schärfer werden, als sie es damals waren: Paulus hat die Sklaven, die Christen wurden, nicht einfach zum Aufstand gerufen, und doch hat die Bibel später zu Recht zur Aufhebung der Sklaverei beigetragen.

Gestern so, heute anders, morgen nochmals anders – und in anderen Kulturkreisen sowieso nochmals ganz anders. Wie steht es da mit dem Absolutheitsanspruch und der Gültigkeit der Bibel?
Ich ziehe es vor, vom Wahrheitsanspruch der Bibel zu sprechen statt von Absolutheitsanspruch. Sie ist Gottes Wort und damit Massstab, und doch geschrieben von Menschen und gelesen von Menschen. Das heisst wiederum nicht, dass alles relativ ist und in jedem Kulturkreis etwas ganz anderes bedeutet. Es geht um Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Um den Menschen, der in seinem Bild geschaffen ist. Um Jesus, der das Reich Gottes verkündet hat, gestorben und auferstanden ist, und jetzt zur Rechten Gottes herrscht. Es geht um Versöhnung mit ihm und ein Leben in der Nachfolge, wo wir Gott und den Nächsten lieben. Die Inhalte der Bibel sind nicht beliebig, sondern richtungsweisend.

Martin Luther hat mal gesagt: «Die Bibel lebt, denn sie spricht zu mir; sie hat Füsse und läuft mir nach. Sie hat Hände und greift nach mir.» Kennst du das?
Ja und nein. Es gibt in der Tat viele Aussagen der Bibel, die zu mir sprechen, mir nachlaufen, nach mir greifen. Aber irgendwie hat das für mich mehr mit Gott und seinem Reden zu tun, als mit der Bibel als Buch. Immerhin: Gott spricht durch die Bibel mehr und deutlicher als durch jedes andere Medium, und deshalb ist das Lesen der Bibel unverzichtbar für uns.

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Datum: 28.12.2016
Autor: Brigitte Frei
Quelle: BewegungPlus Online

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