Prediger Gülen
Ein Islam, der nicht nach der Macht strebt
Im härtesten Machtkampf seit Vertreibung des letzten Sultans vor 100 Jahren in der Türkei stehen sich die politislamische Regierung Erdogan und die einflussreiche Erweckungsbewegung «Hizmet» des 72-jährigen Moscheepredigers Fethullah Gülen gegenüber.
Gülen begeisterte sich schon in jungem Alter für das Gedankengut christenfreundlicher Mystiker, besonders des Hymnendichters Rumi von Konya. Gülen stiftete einen Rumi-Preis für religiöse Lyrik, der bis heute vergeben wird. Diesen Dezember, als in der Türkei die grosse Korruptionsaffäre losbrach, erhielt ihn schon zum zweiten Mal die junge Dichterin Fatma Balci. Von ihr stammt das Gedicht «Paskalya Yumurtalari» (Ostereier), in dem es heisst: «Herr Jesus ist erstanden eben! Nehmt Eier bunt, hoch sollt ihr leben, Ob milchweiss oder golden Eure Zähne! Wein, Brot zum Zeichen hat gegeben, Herr Jesus, ist erstanden eben!»Prediger Gülen beschäftigt sich nicht nur mit islamischem Jesus-Lob. Der Name seiner Bewegung «Hizmet» bedeutet «Dienst, Hilfestellung» in religiöser und schulischer, ebenso sozialer Hinsicht. Hizmet will der Gesellschaft dienen, nicht die Macht für einen Politislam erringen. Das gilt auch für Fethullah Gülen persönlich. Sogar die Christen in der Türkei bescheinigen ihm gütige Bescheidenheit. Wenn man es auch sonst mit islamischen Führern zu tun hatte, einem Ayatollah Khomeini z.B. oder ägyptischen Muslimbrüdern, lernt man bei persönlichen Begegnungen den sympathischen Gülen erst recht schätzen. Doch er kann, wenn nötig, auch energisch werden.
Gülens Sprachrohr, die Tageszeitung Zaman (Die Zeit) veröffentlichte zum Jahresanfang eine schon viel beachtete Analyse der politischen Krise in Ankara. Unter dem Titel «Die Grenzen des politischen Islam» wird der Nachweis versucht, dass Erdogan und seine Parteifreunde islamische Parolen nur im Interesse ihrer Machterhaltung gebrauchen: «Sie hängen bloss ihre Politikerkrawatten am Halbmond auf!». Zutiefst sei Erdogan dem türkischen Ultranationalismus verbunden. Nur so sei zu erklären, dass alle Reformversprechen von 2013 an nationale und religiöse Minderheiten mit Kurden und Christen an der Spitze sich als Luftballone entpuppten, die bald zerplatzten.
Die islamische Erneuerungsbewegung von Fethullah Gülen ziele hingegen auf ethische Aufwärtsentwicklung jedes Einzelnen. Die Zukunft der Türkei gehöre einem erneuerten Islam, der nicht selbst nach der Macht strebt und greift, sondern die freie, demokratische Entfaltung der politischen Kräfte ermöglicht.
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Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet