30 Jahre Carlos Martínez
Braucht ein Pastor ein Rednerpult?
Zurzeit findet zum 30-Jahre Bühnenjubiläum des spanischen Mimen Carlos Martínez eine Jubiläumstournee in der Schweiz statt. Aus diesem Anlass hat Livenet ein Interview geführt, das wir in drei Teilen bringen. Wir fragen auch nach seinen Erfahrungen als ehemaliger Pastor.Livenet: Carlos Martínez, was kann ein Mime, der ohne Worte arbeitet, einer Kirche, in der das Wort im Zentrum steht, geben?
Carlos Martínez: (lacht) Wenn wirklich das Wort im Zentrum steht, weshalb sollen wir es dann nicht ab CD bringen? Wir könnten es uns so viel leichter machen. Weshalb braucht es einen Pastor, um das Wort zu predigen, wenn doch das Wort am wichtigsten ist? Offenbar brauchen wir eine Person, die das Wort nicht nur erzählt, sondern es auch lebt, sich bewegt und ausdrückt. Weshalb soll er die Bibel nicht nur vorlesen? Wir brauchen offenbar jemanden, der sie auch repräsentiert. Er ist auch ein Stück weit ein Mime. Auch ich setze meinen Körper ein – ohne Worte. Ich bin nicht gegen Worte, ich versuche aber, die Worte durch meinen Körper auszudrücken. Ich zeige Geschichten und mache dabei die Worte sichtbar.
Ein Mime hat den Vorteil, dass er eine Sprache spricht, die grundsätzliche alle verstehen. Was braucht es, um diese Sprache wirklich gut zu verstehen?
Das Objekt der Geschichte sollten die Leute kennen. Ich kann im afrikanischen Busch nicht einen Lift spielen. Wenn ich heute vor Kindern mit einem Telefon mit Wähltaste oder einer Schreibmaschine spiele, verstehen sie das nicht mehr. Der einzige Weg, auf dem man alle Menschen erreicht, sind Gefühle, denn diese sind global: Traurigkeit, Ärger, Schrecken, Glück. Von solchen Gefühlen handeln auch die biblischen Geschichten!
Der Sohn, der sein Erbe einfordert und von zuhause weggeht, der Vater, der darüber traurig ist ... Die Bibel ist voller Gefühle. Das verstehen alle. Einzig Autisten haben mehr Mühe, Gefühle zu verstehen. Sie brauchen mehr Zeit dafür. Das berücksichtige ich, wenn ich vor Autisten spiele. Pantomime kann ihnen helfen, sich für Gefühle zu öffnen.
Sie waren Pastor einer Baptistengemeinde. Was haben Sie anders gemacht, als Ihre Pastorenkollegen?
(lacht) Was ich zuerst machte, war eine Bühne zu errichten. Ich wollte Künstler einladen und dafür sorgen, dass die Leute sie auch sehen können. Ich suchte ausserdem immer wieder neue Wege, das Abendmahl mit der Gemeinde zu feiern. Es ist eine Zeremonie, in der alle aufgefordert sind, sich zu beteiligen, zu trinken, zu essen. Nicht allein der Pastor ist aktiv, sondern die ganze Gemeinde. Das forderte meine Kreativität heraus. Anfänglich zögerten die Leute, aber dann waren sie immer mehr begeistert. Das war spannend!
Was ist der häufigste Fehler, den Sie bei Pastoren sehen?
(zögert) eine heikle Frage. Ich meine, die Pastoren sollten mehr Zeit in der «Sakristei» verbringen. Ich verstehe darunter die Garderobe, oder einen Platz, wo er verweilen und die Gemeinde beobachten kann. Er muss wissen, welche Menschen da sind und welche Bedürfnisse sie haben könnten. Wenn er sich diese Zeit nicht nimmt, weiss er eigentlich nicht, wen er vor sich hat. Er muss seine Inhalte an die Menschen anpassen, die wirklich da sind. Es ist etwas anderes, ob 20 oder 100 da sind, oder ob neue Besucher gekommen sind oder nicht. Wenn eine Gemeinde keinen solchen Raum hat, sollte sie ihn schaffen. Zu oft sind die Pastoren sehr beschäftigt vor dem Gottesdienst. Auch wenn nur 20 Leute da sind, ist mein voller Einsatz gefordert. Wir brauchen diese Zeit, bevor wir auf die Menschen zugehen.
Welche Tipps können Sie Personen geben, die häufig vor andern Leuten stehen müssen?
Wir müssen uns zuerst fragen, wo unser Raum ist. Es gibt in den meisten Kirchen eine Kanzel oder ein Rednerpult. Es darf aber nicht unseren Schutz bedeuten. Wenn wir vor den Leuten stehen, müssen wir den Menschen begegnen. Mit unseren Augen, unserer sichtbaren Präsenz. Im Theater sprechen wir davon, dass jeder sein Ticket bezahlt hat. Also geben wir uns Mühe, auch den letzten Zuschauer zu erreichen. Wer vor Leuten steht, spricht nicht nur zu einer Person oder Gruppe, sondern zu jedem, der gekommen ist, seien es 20 oder 1000.
Geht das überhaupt?
Ja. Es ist möglich.
Brauchten Sie ein Rednerpult?
Ja. Zumindest um meine Bibel und meine Notizen abzulegen. Ich rührte es aber nicht an. Ich brauchte meine Hände für anderes. Ich lief zwar nicht im Saal herum, hielt mich aber auch nicht am Pult fest. Ich trug jeweils die gleiche Predigt in drei Gemeinden vor, passte sie aber immer der jeweiligen Versammlung an. Es gab daher Leute, die von einem Gottesdienst zum andern nachreisten.
Webseiten:
Tourneedaten 2012 von Carlos Martínez
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet