Pilgern – Weg aus der Hektik
Filmtipp: Raus aus der Stube, rauf auf den Weg
Wenn der Frühling mit seiner Wärme die Lebensgeister weckt, die Schneehüllen fallen und die Pflanzen spriessen, zieht es den Homo sapiens wieder vermehrt nach draussen. Er will sich mehr bewegen und die vier ach so beanspruchten Wände hinter sich lassen. Zusammen mit Spiritualität und Gedankenarbeit wurde das Pilgern zu einer beliebten Form, die genau passt. Hier ein Filmtipp für Ein- und Aussteiger.
«Ein Pilger ist ein Wanderer mit Ziel», dies sieht der Zuschauer auf dem T-Shirt eines Protagonisten der Doku «Pilgern – Weg aus der Hektik».
Der Film führt verschiedene Aspekte des spirituellen Unterwegsseins vor Augen. So treffen gegensätzliche Aussagen wie «das Wichtigste am Pilgern ist, sich Zeit zu nehmen, mindestens einen Monat» und die Meinung, gerade das Pilgern im Alltag sei praktisch und hilfreich, aufeinander.
Wir begleiten einen Pfarrer auf John Wesleys Spuren, besuchen eine Pilger-Herberge, sehen das Pilgern im Alltag und Ratschläge für Aktive.
Über Stock, Stein, Hugenotten- und Mönchsgeschichten
Eine richtige Bewegung, ja Community, entstand rund ums Pilgern. Der Pilgerweg schlechthin ist der bekannte Jakobsweg, wo aktuell dreimal mehr Urkunden ausgestellt werden als noch vor zehn Jahren.
In der Schweiz schlängeln sich dutzende Pilgerwege durchs Land. So gibt es einen Hugenottenweg, den Gallusweg oder die Kolumbanstrecke, die im Gesamten von Nordirland bis nach Italien reicht. Sie spürt und spurt dem Leben des heiligen Kolumban nach.
Pilgern bis die Sohle qualmt
2019 wurden 347'500 offizielle Urkunden des Jakobsweges ausgestellt. Sie gehen nur an diejenigen, welche mindestens die letzten 100 Kilometer zu Fuss oder mit Pferd hinter sich bringen. Weltweit werden rund 200 Millionen pilgernde Menschen jährlich geschätzt.
Obwohl zuerst im Januar und Februar letzten Jahres 25 Prozent mehr gepilgert wurde, verzeichnete schlussendlich das Corona-Jahr 2020 einen Rückgang von satten 85 Prozent.
Von Frauenfeld nach London und von Übelkeit geheilt
Als erstes im Film wird Jörg Nieder begleitet. Der Pfarrer war von Frauenfeld zum Wirkungsort John Wesleys, nach London, gepilgert. Nach 48 Tagen hatte er's geschafft. Für ihn war nicht die körperliche Leistung herausfordernd, sondern der Umgang mit der Einsamkeit und der Unsicherheit, wo er abends schlafen würde.Jeweils abends wollte Niederer John Wesley studieren, doch teilweise reichte die Kraft nicht mehr; denn es gab auch immer Einiges zu organisieren: alltägliche Unterkunft, Essen und anderes.
Der Impuls einer schriftlichen Andacht, sich nicht zu sorgen, liess tatsächlich die tägliche Übelkeit des Pfarrers verschwinden. Auch durch dieses Erlebnis hat er in dieser Zeit mehr Vertrauen in Gott gewonnen.
Und für wen eignet sich nun das Pilgern? «Für jeden Menschen, der etwas Besonderes mit Gott erleben möchte», antwortet Jörg Niederer zufrieden.
Gastfreundschaft für Gehende
Dem Herbergsvater Bruno Kunz hat es klassischerweise den Ärmel – und das Bein – durch den Jakobsweg reingezogen. Seine Pilgerherberge in der Altstadt von Rapperswil wurde zur meistbesuchten Pilgerherberge der Schweiz und versorgt jährlich rund 1000 Pilger. Der Grund dafür: Es treffen zwei Routen in Rapperswil zusammen.
Auf die Frage, was denn das Wichtigste am Pilgern sei, entgegnet er: «Dass man lange geht, mindestens einen Monat – viele gehen nur eine Woche, das reicht nicht. Dann kommt man auch in die Tiefe, auch spirituell.»
Umgebung entdeckt – plus sich selber und Gott
Aus dem Entdeckerinstinkt entstand eine Gewohnheit. Barbara Stotzer-Wyss zog frisch verheiratet in eine neue Region. Da plante die Leiterin des Bachelor-Studiums im IGW, für zwei Monate einen Tag wöchentlich zu pilgern. Sie lernte nicht nur ihre neue Umgebung besser kennen, sondern sich selber und auch Gott. Denn sie nutzt die Zeit zum Gebet und dazu, spontan Fragen zu bewegen, die soeben auftauchen. Oft habe sie gute Gespräche mit Gott. Und das Pilgern im Alltag ist eine Idee, die sie auch den IGW-StudentInnen weitergeben konnte.
Begleitung beim Erlebnisverdauen und Gedankenankurbeln
«Pilgern hat Langzeitwirkung», sagt Pilgerpfarrer Michael Schaar. Er unterstützt die Vertiefung des Pilgerns und Schnuppern bei Anfängern im Pilgerzentrum St. Jakob in Zürich.
Eine Leichtigkeit, Zentriertheit, mehr Achtsamkeit und einen neuen Zugang zu Gott hätten viele Pilger gefunden, erzählt Schaar, und dies wollten viele dann auch im Alltag weiterleben. Genau dort setzt die Begleitung des Pilgerpfarrers an.
Er selber lernte, mit Bescheidenheit unterwegs sein zu können und die Frage zu stellen: Welchen Ballast kann ich im Alltag wegwerfen? Das tue ihm persönlich auch gut, so der Michael Schaar.
Fazit: Ein Film, der die eine oder den anderen auf eine Pilger-Route locken könnte.
Zum Film:
«Pilgern
– Weg aus der Hektik»
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Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet