Sektendebatte: Nachgefragt bei Hugo Stamm

"Die Sekten faszinieren mich nicht sonderlich”, sagt der Journalist Hugo Stamm. Fritz Herrli befragte Hugo Stamm zu seinem Buch "Tod im Tempel".

Fritz Herrli: "Was fasziniert Sie so sehr an Sekten und religiösen Bewegungen?
Hugo Stamm: Sekten und vereinnahmende Bewegungen faszinieren mich nicht sonderlich. Vieles in solchen Gruppen ist langweilig und auf einem geistig tiefen Niveau. Faszinierend ist hingegen, wie sich Menschen geistig beeinflussen lassen und wie die Indoktrination funktioniert. Spannend sind die psychologischen Momente: Wie entstehen Sehnsüchte und Ängste, wie werden diese kompensiert, wie kultivieren Sekten diese menschlichen Regungen, um sie für ihre Ziele zu nutzen?

Haben Sie selbst eine schlimme Erfahrung in einer Sekte gemacht? Was war der Auslöser für Ihre Arbeit in diesem Themenbereich?
Ich muss Sie leider arg enttäuschen. Ich hatte nie Berührungen mit einer vereinnahmenden Bewegung. Ausserdem geriet nie jemand aus meiner Familie, Verwandtschaft oder aus dem Bekanntenkreis in eine solche Gruppe. Ich bin über den Beruf als Journalist vor 30 Jahren auf das Thema gestossen. Mir geht es bei der Aufklärungsarbeit um die geistige Freiheit – das wichtigste menschliche Gut. Ich verstehe mein Engagement als Konsumentenschutz auf der geistig-religiösen Ebene.

Oft sind auch evangelische Freikirchen Thema Ihrer Artikel oder Bücher. Warum?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bezeichne Freikirchen nicht als Sekten. Aber viele Freikirchen sind nicht frei von vereinnahmenden Tendenzen. Ein paar Stichworte dazu: Angst als Mittel der Disziplinierung, Missbrauch bei Heilungsgottesdiensten, fragwürdige Phänomene wie Zungenreden und Torontosegen, Exorzismus, weltfremder Umgang mit Sexualität, Weltflucht, Endzeitsehnsüchte und so weiter.

Insbesondere charismatische Gruppierungen stehen bei Ihnen auf der schwarzen Liste. Auch im Roman "Tod im Tempel" werden zwei Frauen Opfer einer solchen Gemeinde. Glauben Sie wirklich, dass diese so gefährlich sind?
Nicht die Gemeinden sind gefährlich, der moralische Druck der oft autoritären Prediger, Pastoren und Ältesten kann heikel sein. Er führt oft zur Uniformierung des Denkens und Fühlens, alle müssen sich der einen "Wahrheit" und den engen Glaubensregeln unterordnen. Das führt bei Gläubigen oft zu Gewissenskonflikten und Ängsten . Es ist deshalb kein Zufall, dass gerade bei Freikirchen überdurchschnittlich viele Gläubige psychische Auffälligkeiten wie Depressionen zeigen.

In freikirchlichen Kreisen wird befürchtet, dass Ihr Buch weiter Vorurteile gegen alle Gruppierungen schürt, die nicht zu den Landeskirchen gehören. Welche Reaktionen erwarten Sie?
Mir ging es darum, aufzuzeigen, wie sich eine strenge religiöse Erziehung auswirkt. Judith zerbrach daran und geriet später in die Fänge eines Gurus. Sarah hingegen rebellierte und ging gestärkt daraus hervor. Ich ändere doch mein Konzept nicht ab, nur weil ich negative Reaktionen erwarte. Wer Voruteile hat, wird sie im Buch bestätigt finden. Wer differenziert denkt, wird erkennen, dass der Roman nicht eindimensional aufgebaut ist. Immerhin beschreibe ich die Gottesdienste und Rituale im Tempel sehr bewegend.

Tod im Tempel – Krimi und Religion

Das Buch von Hugo Stamm - von Sam Moser rezensiert. Im Tempel der "Glückseligen" begeht die junge Frau Nicole unter mysteriösen Umständen Selbstmord. Sarah, ihre Freundin, glaubt nicht an die Selbstmord-These.

Ohne jemanden von ihrem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, begibt sie sich in den Tempel, lässt sich als Novizin aufnehmen – und gerät in eine Lage, aus der sie sich selber nicht mehr befreien kann. Judith, ihre Schwester, ahnt, wo sie sich befinden könnte und versucht erfolglos hinter das Geheimnis des Tempels zu kommen. Sarah wird erst mit Hilfe von Roman, der sich als Mönch in den Tempel einschleust, und eines V-Mannes der Polizei befreit. Soweit die Handlung, die mit einer Mordklage gegen den Guru Vishnudasa, aber nur mit einem halben Happyend endet.

Nach der Publikation von sechs Sachbüchern zum Thema "Sekten und vereinnahmende Bewegungen" setzt Hugo Stamm mit einem Unterhaltungsroman seine Aufklärungsarbeit fort. Dabei beleuchtet er vor allem Indoktrination und Manipulation, wie wir sie etwa aus den kollektiven Dramen der Sonnentempler, Davidianer, der Gruppe Haevens Gate und der Aum-Bewegung kennen. Deutlich wird die Sehnsucht der rational konditionierten Menschen nach dem Spirituellen, Transzendenten und Absoluten sowie die Schwierigkeit "Erleuchtete" zu deprogrammieren. Aber auch die Situation und Befindlichkeit von Angehörigen der Opfer sowie die belastende Arbeit von Beratungsstellen kommen gut zur Darstellung.

Einverstanden, manches erscheint unwahrscheinlich und überspitzt – aber das Buch liest sich süffig.

Schwach und kurzschlüssig ist die Beschreibung des Nährbodens solcher Phänomene: Der religiöse Hintergrund der beiden weiblichen Opfer in einer stark charismatisch geprägten freikirchlichen Gemeinde. Zwar ist die Beschreibung des "Christussaales", der sich Sonntag für Sonntag unter der Leitung von Pastor Bölsterli (!) in ein Tollhaus verwandelt, nicht frei erfunden. Die Phänomene von Toronto, die vor Jahren auch die Schweiz erreicht haben, aber inzwischen längst abgeklungen sind, werden korrekt wiedergegeben. Auch der missglückte Exorzismus an einer der jungen Frauen ist gut nachempfunden. Trotzdem, die Lektüre des Romans hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Einmal mehr wird nämlich von Stamm zu vieles in den gleichen Kübel geworfen. Die Begriffe "Sekte" und "vereinnahmende Bewegung" werden nirgends erklärt und bleiben diffus. Opfer und Angehörige erhalten keine Orientierungshilfe. Es ist zu befürchten, dass die Vorurteile gegen evangelische Freikirchen und Gemeinschaften neue Nahrung erhalten. Schade!

Empfehlung: lesenswert (trotz Vorbehalt!)

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Datum: 27.02.2004
Autor: Fritz Herrli/Sam Moser
Quelle: idea Schweiz

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