Biologe Siegfried Scherer
«Fortpflanzungsbiologen unterscheiden zwei Geschlechter»
Was ist
eigentlich ein Geschlecht?
Siegfried Scherer: Ich
antworte als Biologe. In der Biologie zeigt das biologische Geschlecht bei sich
sexuell fortpflanzenden Arten an, welche Individuen beim Fortpflanzungsprozess
grosse Eizellen und welche Individuen kleine Samenzellen bilden. Die, die grosse
Eizellen bilden, nennt man weiblich, und die, die kleine Samenzellen bilden,
nennt man männlich. Das ist querbeet in der gesamten Biologie so.
Es gibt also
auch Tierarten, die sich nicht sexuell fortpflanzen?
Es gibt viele Organismen, die sich vegetativ fortpflanzen. Die haben also keine
Geschlechter, die Zellen teilen sich einfach, zum Beispiel Bakterien. Wenn wir
in der Biologie von Geschlecht sprechen, dann meinen wir sexuelle
Fortpflanzung. Tatsächlich gibt es sehr selten weibliche Tiere, die keine
Männchen zur Fortpflanzung benötigen, sie bilden Eizellen, die sich aber ohne
Spermium zu Nachkommen entwickeln können. Das ist kein drittes Geschlecht, es handelt sich nach wie vor um
Weibchen. Bei Säugetieren und beim Menschen kommt das übrigens nie vor.
In der
Biologie geht es bei Geschlecht also darum, wer welche Rolle bei der
Fortpflanzung spielt.
Ja, eigentlich ganz
einfach. Die, die grosse Eizellen machen, sind die Weibchen, und die, die kleine
Samenzellen machen, sind die Männchen. Das biologische Geschlecht ist ein
eindeutig definierter Begriff aus der Fortpflanzungsbiologie.
Männlich und
weiblich, Eizelle oder Spermium – also kennt die Biologie nur zwei
Geschlechter?
Die
Fortpflanzungsbiologen unterscheiden zwei Geschlechter – und zwar genau zwei
Geschlechter, das weibliche und das männliche Geschlecht. Weitere biologische
Geschlechter sind nicht bekannt, weder beim Menschen noch bei sexuell sich
fortpflanzenden Tieren noch bei Pflanzen.
Wie entsteht
eigentlich das biologische Geschlecht? Ist es schon von Anfang an festgelegt,
dass ein Mensch männlich oder weiblich wird?
Normalerweise schon. Das
Geschlecht wird genetisch determiniert durch die Geschlechtschromosomen X und
Y. XX ist weiblich, XY ist männlich. Im Laufe der Embryonalentwicklung wird das
biologische Geschlecht auch anatomisch sichtbar. In den ersten sieben Wochen
sind männliche und weibliche Embryonen nicht voneinander zu unterscheiden. Erst
danach bilden sich in der Embryonalentwicklung die primären Geschlechtsorgane
aus, also Hoden oder Eierstöcke, in denen die Eizellen und Samenzellen gebildet
werden.
Es gibt auch
Fälle von Intersexualität, bei denen sich also beim Fötus trotz XX-Chromosom
ein Penis entwickelt.
Es gibt eine ganze Menge
von unterschiedlichen Ausbildungen im Bereich der Intersexualität. Diese
Menschen sind Träger von sehr seltenen Mutationen, manchmal auch
Chromosomen-Anomalien. Mutationen sind Fehler in der DNA-Sequenz von Genen, die
für die Ausbildung der primären Geschlechtsorgane notwendig sind. Aufgrund
solcher Erbgutfehler ist die embryonale Ausbildung der primären Geschlechtsorgane
gestört. Dies kann mehr oder weniger drastisch ausfallen, ist aber selten, die
Zahlen liegen bei etwa 0,5 bis 1 Prozent. Diese Störungen in der
Sexualentwicklung führen aber nicht zu einem weiteren biologischen Geschlecht,
wie das mitunter fälschlicherweise behauptet wird, sondern diese Mutationen im
Erbgut stören die Ausprägung eines der beiden biologischen Geschlechter.
Das kann dramatische Folgen bis hin zu Unfruchtbarkeit und zu verschiedensten körperlichen Störungen haben. Für die betroffenen Menschen ist das notvoll, sie brauchen sexual-medizinische und psychologische Hilfe. Unsere Gesellschaft ist mit diesen Menschen leider nicht immer gut umgegangen. Da gibt es viele Versäumnisse in der Vergangenheit.
«Intersexuell»
bedeutet «zwischen den Geschlechtern». Das Bundesverfassungsgericht hat
geurteilt, dass es dafür eine positive, nicht ausschliessende Bezeichnung geben
muss. Heute ist von «divers» in Bezug auf das Geschlecht die Rede. Ist das
nicht also ein «drittes Geschlecht»?
Ich habe nichts dagegen,
wenn wir diese Menschen als divers bezeichnen. Dann bewegen wir uns nicht mehr
im biologischen, sondern im soziologischen Bereich. Und selbstverständlich sind
das nicht Menschen zweiter Klasse, sie sind vollwertige Menschen, mit einer Besonderheit.
Es ist wichtig, dass wir darüber reden, wie wir auf eine gute Weise miteinander
umgehen. Beim Begriff «divers» handelt es sich biologisch gesehen nicht um ein
weiteres Geschlecht, es ist ein Sammelbegriff für zahlreiche Abweichungen in
der Sexualentwicklung.
Ist die Frage,
wie viele Geschlechter es gibt, innerhalb der Biologie umstritten?
Nein. Schlicht und ergreifend nein. Es gibt zwei biologische Geschlechter und
es ist bis heute kein drittes biologisches Geschlecht im Sinne der
Fortpflanzungsbiologie bei den Säugern beschrieben worden.
Der
Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voss hält von Zweigeschlechtlichkeit nichts.
Über den viel diskutieren Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht sagte er: «Den
heutigen Fachdebatten in unserer Disziplin trägt sie gar nicht Rechnung.
Wissenschaftlich wird von Variabilität und individueller Vielfalt ausgegangen.»
Ist das falsch?
Ich habe den Vortrag von
Frau Vollbrecht natürlich angehört. Sie hat den aktuellen Stand der
Fortpflanzungsbiologie auf einem allgemeinverständlichen Lehrbuch-Niveau
korrekt dargestellt. Die biologische Zweigeschlechtlichkeit wird durch
genetische oder auch hormonelle Störungen nicht in Frage gestellt. Ein weiteres
biologisches Geschlecht, welches für die Fortpflanzung der Lebewesen eine Rolle
spielt, ist bis heute nirgends beschrieben worden. Mir erschliesst es sich
nicht, von welchen Fachdebatten Herr Voss spricht. Wahrscheinlich bezieht er
sich auf soziologische Debatten.
Manche
Menschen fühlen sich nicht wohl mit ihrem Geschlecht, obwohl es biologisch
eindeutig ist.
Das gibt es, leider. Da
geht es um Transsexualität. Ich glaube, dass das sehr unterschiedliche Ursachen
haben kann. Es kann genetische Ursachen haben, zum Beispiel dass die Produktion
von Geschlechtshormonen auf- oder abreguliert ist. Wenn bei einer Frau – also
genetisch XX – die Testosteron-Produktion hochreguliert ist, hat das auf den
ganzen Körper einen Einfluss. Es kann daher sein, dass diese Frauen
gewissermassen hormonell «vermännlichen», was man bis ins Gehirn hinein auch
feststellen kann. Wenn andererseits bei Männern – also genetisch XY – zu wenig
Testosteron gebildet wird, kann es sein, dass zwar die primären männlichen
Geschlechtsorgane vorhanden sind, aber dass es trotzdem gewissermassen zu einer
«Verweiblichung» kommt.
Aber auch Belastungen wie bei schrecklichen Lebenserfahrungen können dazu führen, dass Menschen in ihrer geschlechtlichen Identität ins Schwimmen kommen. Das wissen Psychologen aber besser als ich. Es gibt eine grosse Bandbreite an Ursachen, warum ein Mensch sich nicht identifizieren kann mit seinem biologischen Geschlecht. Das muss man ernst nehmen und verantwortlich damit umgehen. Besonders liegen mir da die Teenies am Herzen. Wenn ich lese, dass der Gesetzgeber plant, dass ein Kind mit 14 Jahren ohne die Eltern entscheiden darf, ob es sich umoperieren lässt in seiner Geschlechtszugehörigkeit, dann packt mich das kalte Grausen. Das muss zum Schutz der Kinder verhindert werden. Verstehen Sie mich richtig, ich habe nichts grundsätzlich gegen Geschlechtsumwandlungen. Man muss aber sehr sorgsam abwägen, um sicher sagen zu können, in welchen Fällen das sinnvoll ist. So etwas ist irreversibel und kann ein Leben zerstören.
In der
aktuellen Version der Internationalen statistischen Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – ICD-11 – ist die
Transsexualität und alle damit in Zusammenhang stehenden Diagnosen entfernt
worden. Es ist also nicht mehr die Rede von einer Störung.
Ich kann es voll
verstehen, wenn ein betroffener Mensch sich nicht in eine pathologische
Schublade stecken lassen will, weil das vielleicht gesellschaftliche
Konsequenzen hat. Es geht ja hier nicht um schiefe Zähne oder ein krumme Nase,
sondern hier ist die ganze Persönlichkeit und Individualiät des Menschen
betroffen. Für mich bedeutet eine solche Störung keine Abwertung der Person.
Die betroffenen Menschen können nichts dafür. Ich bin selbst auch betroffen.
Auch in meiner individuellen Sexualentwicklung hat es eine genetische
Abweichung gegeben: Ich bin unfruchtbar. Das hat mit einem weiteren Geschlecht
nichts zu tun. Das ist eine Störung meiner Sexualentwicklung, eine tragische
und weitreichende Störung – was denn sonst? Aber das hat mit
meinem Wert als Mensch und als Mann nichts zu tun. Wir sollten sehr feinfühlig
und ohne Tabuisierung mit diesen Dingen umgehen. Es ist vermutlich nicht
hilfreich, von Krankheit zu sprechen. Es kommt viel mehr darauf an, wie wir mit
den Menschen umgehen, wie wir ihnen helfen und wie wir sie als Gesellschaft
integrieren. Das ist die eine Seite. Aber die andere Seite ist, dass es wenig
sinnvoll ist, soziologische Begriffe mit biologischen Begriffen zu
verwechseln.
In der Bibel
heisst es in Genesis: «Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Zum Bilde
Gottes schuf er ihn und schuf sie als Mann und Frau.» Wie können Sie es
theologisch einsortieren, dass es auch Menschen gibt, die eben nicht Mann oder
Frau sind – oder sich zumindest nicht so fühlen?
Der Schöpfungsbericht
bestätigt zunächst den biologischen Befund: Der Mensch ist Mann oder Frau. Die
Rabbiner in der jüdischen Tradition wissen aber ganz genau, dass es auch
intersexuellen Formen gibt. Das wird von der religiösen Tradition oder von der
Bibel also nicht ausgeblendet. Wir leben nicht in einer perfekten Welt, sondern
in einer gefallenen Schöpfung. Das sehen wir unter anderem in der Genetik in
allen Bereichen unserer Gene – und eben auch in der Sexualentwicklung. Dass ich
mich nicht fortpflanzen kann, das gehört nicht zur guten Schöpfung Gottes,
sondern es ist eine der Konsequenzen unserer gefallenen Welt. Die Bibel ist da
sehr realistisch und wir sollten es auch sein. Wenn Christen ausblenden, dass
es zum Beispiel intersexuelle Menschen gibt, und wenn sie diese gar als Sünder
betrachten, dann läuft da was grundfalsch.
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Autor: Nicolai Franz
Quelle: Pro-Medienmagazin