Philosoph Charles Taylor wird 90
Säkularisierung: Fortschritt oder Rückschritt?
Haben wir, indem wir die Transzendenz aufgeben, wirklich den Schritt zur «reinen Vernunft» getan? Der kanadische Philosoph Charles Taylor sieht es genau umgekehrt.
Glaube muss sich heute immer mehr rechtfertigen. Hinter der «Säkularisierung» von Gesellschaft und Wissenschaft steht die Überzeugung, dass wir uns von allem Transzendenten frei machen und so zur möglichst «reinen» vernunftgemässen Erkenntnis kommen müssen.
Der kanadische Philosoph Charles Taylor, soeben 90 geworden, hat die Frage umgedreht: «Was aber, wenn es sich umgekehrt verhalten würde: wenn der Gottesglaube das Selbstverständliche wäre und der methodische Atheismus ein Minderheitsvotum darstellte?»
Gottlosigkeit ist begründungspflichtig
In der FAZ geht Redakteur Christian Geyer-Hindemith der Frage weiter nach und kommt zum Schluss: «Dann hätten wir auch eine Zivilisation, nur keine solche, die auf dem 'etsi Deus non daretur' aufbaute, als gebe es Gott nicht, wie der Budenzauber des Naturalismus lautet. Dann erschiene umgekehrt die Gottlosigkeit als begründungspflichtig.»
Taylor «dreht also die Frage nach Gott modernekritisch einfach um», so die FAZ. «Es sei nicht so, dass der Mensch sich erst seiner Transzendenzen entledigt hätte, bevor er das Licht der Vernunft erblickte. Sondern umgekehrt erklärte Taylor die Transzendenzlosigkeit zu einer Schwundstufe der Vernunft, zur Minus-Vernunft. Er sagt: Vernunft ist nicht das, was übrigbleibt, nachdem man von ihr den Gottesbezug abzieht.» Mit anderen Worten: «Vernunft inkl. Glaube» ist das Ursprüngliche und erfasst die Realität zutreffender als «Vernunft minus Glaube».
Versiegen von moralischen Quellen
Weder der Atheismus noch der Theismus (der Glaube, dass es einen Gott gibt) sei ideengeschichtlich vom Himmel gefallen. «Beides sind geschichtlich angereicherte Konzepte, und keinesfalls kann der Atheismus beanspruchen, als die Essenz des Menschseins hervorzutreten, wenn alle Mythologeme (übernatürlichen Elemente, Anm. d. Red.) erst einmal substrahiert, abgetragen, sind», so fasst die FAZ die Kernaussagen Taylors in seinem Buch «Ein säkuläres Zeitalter» zusammen.
Dieser Verlust Gottes bzw. der Transzendenz ist nach Taylor der Hauptgrund für das moralische Defizit der Gegenwart. Noch einmal die FAZ: «Die Verleugnung der Transzendenz oder besser: den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit macht Taylor verantwortlich für die liberalistischen Fehlentwicklungen der Moderne. Von diesem Verlust her erkennt er ein Versiegen von moralischen Quellen, ohne welche das Selbst- und Weltverständnis des Menschen defizitär bleibe, wie er in seinem Hauptwerk 'Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität' darzulegen suchte.»
Menschenbild und moralisches Handeln
Der praktizierende Katholik Taylor erklärte in seiner Vorlesung zur Annahme der Marianisten-Auszeichnung der University of Dayton im Jahre 1996 den Humanismus («der Mensch ist wesenhaft gut») als unzureichende Motivation für moralisches Handeln: Wenn eine Hilfeleistung allein aus einem positiven humanistischen Menschenbild heraus begründet wird, bestehe ständig die Gefahr, dass der Empfänger den idealistischen Erwartungen des Gebers nicht gerecht werde. In diesem Fall könne die Philanthropie des Helfers mit der Zeit in Verachtung und Hass umschlagen.
Ein «zynisches» Menschenbild («der Mensch ist wesenhaft schlecht») auf der anderen Seite bewahre zwar vor einer solchen Enttäuschung, stehe aber in der Gefahr, keine Motivation mehr zu moralischem Handeln aufzubieten. Darum verweist Taylor auf die Bedeutung des christlichen Menschenbilds, das den Menschen als Sünder begreift, ihm gleichzeitig als Bild Gottes aber dennoch unbedingten Wert und Würde zuschreibt.
Christlicher Glaube allein sei noch kein Garant für dauerhaftes moralisches Handeln, wie die Geschichte zur Genüge zeigt. Der Verlust des Glaubens ist aber die Hauptquelle für die moralisch-ethische Krise der Neuzeit; Taylor betrachtet die zentrale neuzeitliche Idee von der menschlichen Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als ein verkürztes Menschenbild mit fatalen Konsequenzen: Es führe zu einem «Individualismus der Selbstverwirklichung» und damit zu einem Wertrelativismus und Subjektivismus, der Belange jenseits des eigenen Ich ignoriert und es unmöglich macht, moralische Streitfragen zu beantworten.
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch / Facebook / FAZ / Wikipedia