Systemsprenger
Was ist, wenn mein Kind nicht «funktioniert»?
Natürlich muss kein Kind in erster Linie «funktionieren». Doch das unterstreichen meist diejenigen, deren Kinder sich relativ problemlos in Familie, Schule und Kirchengemeinde einsortieren. Was aber ist, wenn sie nicht nur einzelne Trotzanfälle haben, sondern sich den herkömmlichen Erziehungsmassnahmen schlicht verweigern?
Alle Eltern kennen die Situation, wenn sich das eigene Kind im Supermarkt schreiend auf den Boden wirft, weil es etwas haben möchte, oder sich sonst völlig danebenbenimmt. Dann versucht man, freundlich und gelassen zu bleiben, die mitleidigen oder kritischen Blicke der Umstehenden zu ignorieren, und mit dem Sprössling wieder zum normalen Leben zurückzukommen. Doch was ist, wenn das das normale Leben ist? Wenn das Kind nicht nur ab und zu, sondern permanent herausfordernd ist?
Mehr als herausfordernd
Solche und ähnliche Szenarien beschreibt Sonja Brocksieper in ihrem Buch «Mit Liebe bewaffnet – Wie wir unsere herausfordernden Kinder annehmen». Offen erzählt die Autorin und Pädagogin von den eigenen Schwierigkeiten mit ihrem Sohn. Und sie lässt viele andere Eltern zu Wort kommen, deren Kinder ADS haben, an Asperger-Autismus leiden, als Pflegekinder kaum eine persönliche Bindung aufbauen können oder sich einfach extrem auffällig und unangepasst verhalten. Einen Grossteil dieser Schwierigkeiten führt Brocksieper auf enttäuschte Erwartungen der Eltern zurück – meist unausgesprochen. Der Satiriker Ephraim Kishon brachte dies einmal so auf den Punkt, dass er während der Schwangerschaft «der besten Ehefrau von allen» völlig entspannt feststellte, dass es ihm völlig egal sei, in welcher olympischen Disziplin ihr Kind später einmal eine Goldmedaille gewinnen würde…Aber was passiert, wenn die erwartete Tochter ein Sohn wird? Wenn das Kind vielleicht intersexuell ist – mit nicht eindeutig zu bestimmendem Geschlecht? Wenn es körperlich oder geistig beeinträchtigt ist? Die elterliche Irritation führt zu härteren Reaktionen auf das Kind. Das empfindet sich als nicht geliebt und sucht durch unangemessenes Verhalten nach Zuwendung und Aufmerksamkeit. Willkommen im Teufelskreis der fehlenden Annahme.
Mit Liebe bewaffnet
Zunächst einmal kann das Buch durchaus den Eindruck erzeugen: Hab dein Kind lieb und alles wird gut. Doch Brocksieper zeichnet keinen einfachen Weg zum Herzen der Kinder. Und vor allem nennt sie keine sieben Schritte zum «stromlinienförmigen» Kind, das nicht mehr aneckt. Man spürt ihr die Mischung aus Gottvertrauen und Realismus ab. Ja, Gott heilt Beziehungen, aber er tut es nicht auf Knopfdruck – und nicht alles kommt in unserer Lebenszeit in Ordnung.
Neben vielen hilfreichen Fragen, die betroffenen Eltern bei der Analyse ihrer Situation und stellenweise auch heraushelfen, weist sie immer wieder darauf hin, dass das Annehmen des Kindes der Teil des Lösungswegs ist, den Eltern gehen können. Und zwischen den Zeilen ermutigt das Buch auch, indem es zeigt: Du bist nicht allein. Du weisst nicht weiter, hast dein Kind aber lieb? Dann zeig ihm deine Liebe. Komm heraus aus deiner Opferrolle und übernimm Verantwortung. Suche nach den Fragen, die hinter dem Verhalten deines Kindes stecken. Vertrau auf Gott, der dein Kind sogar noch lieber hat als du selbst.
«Mit Liebe bewaffnet» ist ein ehrliches und Mut machendes Buch. Gerade weil es kein Happy End propagiert, sondern nach Heilung sucht.
Systemsprenger
Bei manchen Kindern und Jugendlichen sind die Schwierigkeiten, die sie selbst erleben, und die andere mit ihnen haben, Teil einer Phase oder in gewisser Weise beherrschbar. Die Pädagogik kennt aber auch sogenannte «Systemsprenger». Laut Wikipedia sind dies junge Menschen, «für die es noch keine geeigneten sowie erfolgreich nachgewiesenen Hilfemassnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe gibt». Dabei ist der Begriff keine Diagnose, sondern vielmehr ein Ausdruck der Hilflosigkeit aller Beteiligten. 2019 stellte Helena Zengel als neunjährige «Benny» im Film «Systemsprenger» die ganze Bandbreite aus Liebenswürdigkeit und Wut, Hilflosigkeit und Möglichkeiten vor – der Film ist absolut sehenswert (Trailer hier).Ein Auftrag für die gesamte Gesellschaft
Der Film erweitert das Anliegen des Buchs um eine wichtige Kategorie: Das «Funktionieren» von Kindern ist nicht nur die Aufgabe der Eltern. Diagnosen wie ADS mögen erst einmal hilfreich sein, um zu sehen, dass ein unangepasstes Verhalten keine Bösartigkeit ist, doch wenn sie die gesellschaftliche Pflicht beinhalten, das entsprechende Kind jetzt bitte durch Medikamente «auf Linie» zu bringen, dann greift das zu kurz. Sicher sind medizinische und therapeutische Hilfen manches Mal angebracht. Aber genauso wichtig ist es, dass nicht nur Eltern, sondern auch Grosseltern, Nachbarn, Freunde und Gemeindemitglieder Kinder nicht in erster Linie nach dem «Funktionieren» bewerten, sondern sie auch dann annehmen, wenn sie anders sind.
Denken Sie einmal an die Szene in den Evangelien, als Jesus über wahre Grösse redete: «Da nun Jesus die Gedanken ihres Herzens sah, nahm er ein Kind und stellte es neben sich; und er sprach zu ihnen: Wer dieses Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Denn wer der Geringste ist unter euch allen, der wird gross sein!» (Lukas Kapitel 9, Vers 47–48). Wie sieht das Kind in Ihren Augen aus? Ist es ein freundlicher, stiller Junge? Stellen Sie sich einfach mal vor, das Kind sässe im Rollstuhl, hätte ADS und könnte kaum stillhalten, wäre ein Mädchen oder hätte das freundliche Lächeln eines Menschen mit Downsyndrom. Genau. Gottes Liebe ist davon völlig unabhängig. Unsere könnte es auch sein.
Medientipps
Sonja Brocksieper: Mit Liebe
bewaffnet – Wie wir unsere herausfordernden Kinder annehmen. ISBN/EAN: 9783775160438. Erscheint am 1. Juli 2021
Nora Fingerscheidt: Systemsprenger (DVD und Streaming). 110 Minuten
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet