Plädoyer für Stadt und Land
Wir gehören zusammen und brauchen einander
Gottes Herz schlägt für die Einheit von Stadt und Land. Ähnlich einem «Ehebund» möchte man sagen: Was Gott zusammengefügt hat, möge niemand scheiden! Es ist eine Partnerschaft der Unterschiede und Gegensätze, ein wahrlich ungewöhnliches Liebespaar, welches sich trotz immerwährender Dissonanzen stets zueinander hingezogen fühlt und im Wesen zutiefst um seine Zweisamkeit weiss.
«Verstehen tue ich dich meist nicht», sagt das Land der Stadt. «Ich ticke anders als du, aber du bringst mir die nötige Ergänzung», antwortet die Stadt dem Land, «und deswegen bleibe ich dir treu.» «Ich möchte dich nicht an meiner Seite missen», besiegelt das Land den kurzen Dialog.
Und doch erleben wir, wie das Zusammenspiel dieser Einheit zunehmend auf den Prüfstand gerät und Anfragen an den Scheidungsrichter im Raum stehen, ob er nicht schon bald die Trennungsvereinbarung aufsetzen möge. Noch ist es nicht so weit – und das aus gutem Grund. Die Scheidung ist zu kostspielig; es gäbe nur Verlierer. Hier in der Schweiz haben wir gerade erst zwei Fallbeispiele erlebt, die diese Kluft sichtbar machen. Im September dieses Jahres hat der Souverän die Änderung des Jagdgesetzes abgelehnt. Ganz vereinfacht lässt sich sagen: Die Stadt- und Agglo-Kantone haben sich über die Wünsche der Bergkantone hinweggesetzt. Im November nun scheiterte die Konzernverantwortungsinitiative am Ständemehr; die bevölkerungsärmeren Kantone «überstimmten» die Ballungsmacht der Städter.
Schauen wir auf die Staaten-Karte der USA, wird das Gefälle umso offensichtlicher. Neben den Swing-States könnte man mit dem Lineal zwei Linien auf die Karte zeichnen, welche die Gräben im Land zeigen. Christen leben und lieben auf beiden Seiten. Ich glaube, Gott wird anfangen, das Wort der Versöhnung in unsere Münder zu legen, damit wir dieser Spaltung im Geist entgegentreten können. Jedes Wort der Versöhnung ist eine Brücke über die scheinbar unüberwindbare Kluft der jeweiligen Deutungs- und Meinungshoheit.
Eine Stadt im Paradies?
Was wäre, wenn der Mensch im Garten Eden nicht gesündigt hätte? Wäre die «Familie Adam» einst so gross geworden, dass auch im Paradies Siedlungen entstanden wären? Hätte sich nicht auch eine kulturelle Vielfalt entwickelt, die ihren Ausdruck in verschiedenen Lebensformen gefunden hätte? Hätte der Mensch auch die Kunst, die Musik und das Eisenerz entdeckt und für sich nutzbar gemacht, wie es in der sechsten Generation nach Kain der Fall war (vgl. 1. Mose Kapitel 4, Verse 21-22)? Die Bestimmung des Menschen war ja nicht, im Paradies eine Ewigkeit den Löwen zu streicheln und Äpfel zu essen. Er war dazu bestimmt, den Garten zu «bebauen» und damit auch zu bewahren. Die Entwicklung hätte auch im Garten ihren Lauf genommen.
Ab 1. Mose Kapitel 4 sehen wir eine Gott-geführte Entwicklung «ausserhalb des Gartens», die trotz der Schuld des Menschen ihren Lauf nahm. Es ist nicht so, dass sich Gott nach dem Sündenfall gänzlich vom Menschen zurückzog, er hatte weiter «seine Hand im Spiel». Das kommt z. B. dadurch zum Ausdruck, dass Gott den Kain, nachdem er seinen Bruder Abel ermordet hatte, mit einem Schutzsiegel versah, als Kain dem Herrn seine Not schilderte: «Meine Strafe ist grösser, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du vertreibst mich heute vom Ackerland, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; unstet und flüchtig muss ich sein auf Erden. So wird mich denn todschlagen, wer mich antrifft. Der Herr aber sprach zu ihm: Nicht also! Wer immer Kain totschlägt, an dem wird es siebenfältig gerächt. Und der Herr versah Kain mit einem Zeichen, dass keiner ihn erschlüge, der ihn anträfe. So ging Kain hinweg vom Angesichte des Herrn und wohnte im Lande Nod, östlich von Eden.» (1. Mose Kapitel 4, Verse 13-16)
Hier sehen wir einen weiteren, durch die Sünde verursachten Bruch: Kain wurde durch seine Schuld vom Ackerland «vertrieben», weil das Land buchstäblich seinen Mund aufgetan hatte, das Blut seines Bruders zu empfangen (vgl. 1. Mose Kapitel 4, Vers 11). Mit dem Schutzzeichen Gottes versehen, musste Kain sowohl seine Eltern wie auch seine Äcker und Kulturen verlassen. Aus seiner Blutslinie entstand dann, wie schon erwähnt, die erste Stadt. Der Ackerbauer wurde zum Städter! Die Trennung der Familie nahm Kain ebenfalls mit. Kein Wunder, dass in Städten die Isolation und Einsamkeit trotz vieler Menschen oft am grössten ist. Ein Bruderzwist, Konkurrenz, Neid und Eifersucht stehen also am Anfang der Trennung von Stadt und Land. Das, was in Eden in natürlicher Harmonie entstanden wäre, entwickelte sich forciert und in gebrochener Form, als Schatten der ursprünglichen Absicht Gottes, ausserhalb des Gartens.
Jesus – ein Mann des Landes oder der Stadt?
Die Versöhnung von Stadt und Land fing mit Jesus, dem zweiten Adam, wieder an! In Jesus nahm «die Wiederherstellung aller Dinge» (vgl. Apostelgeschichte Kapitel 3, Vers 21) ihren Anfang und wird durch dich und mich, die wir Jesus durch den Heiligen Geist in unseren Herzen tragen, bis zu seinem zweiten Kommen weiter vorangetrieben. Im Leben unseres «älteren Bruders», Jesus Christus, dem Menschensohn, erhalten wir darum eine Orientierung in diesen Fragen. Schliesslich hat er auf Erden gelebt – und auch das Altertum hatte eine offensichtliche Stadt-Land-Dynamik, die in vielen Stellen der Bibel zum Ausdruck kommt. War Jesus ein Städter oder fühlte er sich vom Typ her der Landbevölkerung zugehörig?
Ich glaube, Jesus hatte die Fähigkeit, in beiden Settings zu leben und sich darin zu bewegen. Er suchte bewusst die Städte auf, in denen es eine Kumulation von Menschen gab, für die er als Gottessohn sein Leben lassen würde. Und er suchte bewusst das Land auf, weil das Land und die Landbevölkerung ihm Schutz und Versorgung bieten konnten. Jesus «flüchtete» sich jeweils zu seinen «Landfreunden» nach Bethanien und in die Abgeschiedenheit des Ölbergs, um an diesen Orten neu zu Kräften zu kommen. Danach «stürzte» er sich wieder auf die Strassen, um im Gewusel der Betriebsamkeit möglichst viele Menschen mit dem Evangelium zu erreichen.
Das Volk Gottes wurde angehalten, aus allen Regionen des Landes sieben Mal pro Jahr in die Stadt Jerusalem zu gehen, um dort zusammen mit der Stadtbevölkerung vor dem Herrn seine Feste zu feiern. Jesus wies seine Jünger an, aus der Stadt in die Bergregion vom Galiläa zu gehen, um seiner Himmelfahrt beizuwohnen (er hätte ja auch in einer Nebengasse in Jerusalem auffahren können). Das Land ernährte Jesus und seine Jünger, und seine Gleichnisse waren Bilder, die die einfachen Menschen in der Fischerei und der Landwirtschaft verstehen und nachvollziehen konnten.
Erinnern wir uns, dass Jesus nicht über einen verdorrten Feigenbaum geweint hat, sondern über die Stadt Jerusalem. Er hatte nicht nur Erbarmen mit Menschen, sondern er verschonte auch die samaritanische Stadt vor dem Gericht seiner Jünger, als sie ihn dort nicht aufnehmen wollten. Jesus mischte sich unter die Stadtbevölkerung, sodass niemand ihn erkannte, und zugleich fiel ihm kein Zacken aus der Krone, in der Abgelegenheit der Einöde den herbeiströmenden Menschen bis zur Erschöpfung zu dienen.
Jesus – Stadtmensch und Landei
Jesus trug den Stallgeruch von Bethlehem und beeindruckte die Schriftgelehrten im Tempel in Jerusalem. Er fing Fische mit seinen eigenen Händen und briet sie für seine Jünger zum Frühstück. Er genoss das städtische Obergemach mit den bequemen Kissen für das Passahmahl mit seinen Jüngern und hatte offensichtlich kein Problem damit, tatkräftige Unterstützung von Johanna zu empfangen, einer urbanen Frau, die zur erweiterten Entourage des Königs Herodes gehörte. Jesus wusste, wie man einen Hobel übers Holz führt, und er kannte die Dynamik einer Dorfgemeinschaft und einer minderbemittelten Agglomeration mit geringem Selbstwertgefühl. Er wusste etwas mit einer Schriftrolle des Propheten anzufangen, die ihm in der Synagoge gereicht wurde, und er erntete den Respekt von Offizieren der römischen Besatzungsmacht, weil er ihnen auf Augenhöhe begegnete.
Jesus war Handwerker und Rabbi. Jesus war Städter und gleichzeitig einer von denen, die in der Einfachheit des Landes lebten. Jesus war kein Weichei, er trug den Querbalken seines Kreuzes auf seinen durch Peitschenhiebe zerfetzten Schultern durch die Gassen von Jerusalem. Als Mann liess er es zu, dass Frauen ihn ölten und seine Füsse mit ihren Tränen benetzten. Jesus war ein «Bergler», der nächtelang auf den Bergen betete, und er war ein «Unterländer», der sich im Tal der dämonisch geplagten Menschen annahm. Jesus – der Erstgeborene der Schöpfung und der Liebhaber der Welt. In ihm und seinem Wesen finden sich alle Menschen wieder. Nun denn: Wenn wir als Christen Jesus lieben, wird diese Liebe uns nicht befähigen, das Andersartige zumindest zu ehren und zu respektieren, noch bevor wir es lieben können? Beginnen wir Brücken zu bauen!
Lernen voneinander
«Gegensätze ziehen sich an» heisst ein geflügeltes Sprichwort. Und gegensätzlicher könnten die Stadt-Land-Pole manchmal nicht sein. Wir brauchen die Innovation und die Kreativität der Städte. Trotz grosser Not und Gebrochenheit blitzen in praktisch jeder Stadt die Schönheiten des Zusammenlebens auf. Die Städte brauchen die Beständigkeit des Landes. Ungezügelte Innovation und ungebremstes Wachstum werden bald einmal ungesund, darum «erdet» sich ja eine Stadtbevölkerung in Scharen auf dem Land, um wieder «stadttauglich» zu werden.
Innerlich spürt jeder von uns, dass Scholle und Mensch im Kern zusammengehören und wir dazu gesetzt sind, einander wohlzutun. Auf dem Land gibt es nicht einfach die «heile Welt». Hinter den Geranien ist die Gebrochenheit genauso gross wie in den von Armut, Menschenhandel, Drogen und Kriminalität geplagten Innenstädten; sie nimmt einfach andere Formen an. Wer genau hinschaut bzw. hinhört, nimmt besonders auch auf dem Land das «Stöhnen» und «Ächzen» der Schöpfung wahr.
Dennoch hat die Landbevölkerung im Grossen und Ganzen für einen Erhalt der Werte gesorgt, die unserer Gesellschaft noch einen Rückhalt geben und durch welche sichergestellt wird, dass nicht alle Dämme auf einmal brechen. Begriffe wie «konservativ» und «progressiv» greifen zu kurz und sind zu pauschal, um die Seele des Landes und der Stadt zu umschreiben. Manch progressive Innovation ist auf dem Land geboren und manch konservative Werteerhaltung wird überzeugend in den Städten gelebt. Auf der Grundlage des wertschätzenden Miteinanders wird grosser Segen freigesetzt, weil schlicht und einfach die jeweilige Bestimmung eine andere ist. Wir brauchen einander!
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Dieser Artikel ist zuerst im «Prophetischen Bulletin» der Stiftung Schleife erschienen. Weitere Publikationen des Schleife Verlags können Sie hier bestellen.
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Quelle: Stiftung Schleife