Physische und virtuelle Welt
Die Digitalisierung aus fachlicher Sicht
Bis vor 30 Jahren lebten wir in einer analogen Welt. Heute verbringen vor allem jüngere Menschen manchmal täglich mehrere Stunden in einer digitalen Welt. Von der Digitalisierung betroffen sind aber die Menschen aller Altersstufen. Matthias Stürmer ist Leiter der Forschungsstelle «Digitale Nachhaltigkeit» am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Bern. Er sieht die Digitalisierung kritisch und optimistisch zugleich.
Magazin INSIST: Matthias Stürmer,
was sind die Hauptunterschiede zwischen der analogen und der digitalen Welt?
Matthias Stürmer: In der digitalen Welt gibt es keine Schwankungen mehr, sondern nur noch zwei Zustände: 1 oder 0. Dennoch lassen
sich damit auch erstaunliche Nuancen abbilden. Dann stellt sich die Frage, wie Information zugänglich gemacht wird. Statt
dass wir etwas ausdrucken oder von Hand schreiben, wird die Information
digital gespeichert. Ein Vorteil dabei ist, dass in der digitalen Welt ein
Dokument in wenigen Augenblicken der ganzen Welt zugänglich gemacht werden
kann. Und ich selber habe im Grundsatz Zugriff auf alle weltweit öffentlichen
Dokumente. Die Digitalisierung hat zu einer riesigen Zunahme
an leicht
verfügbaren Informationen und
Daten geführt. Während
die Bibel vor der Reformation noch von Hand abgeschrieben werden musste,
ist sie heute
ohne grösseren Aufwand
für alle Menschen verfügbar.
So gesehen übertrifft die Digitalisierung sogar die Erfindung des Buchdruckes.
Was geht durch die Digitalisierung verloren?
Ich möchte es positiv formulieren: Das Analoge hat an Wert gewonnen. Zum
Geburtstag erhielt ich von einem Freund eine richtige Karte und ein Geschenk.
Darüber freute ich mich sehr. Auf meinen zehn digitalen Kanälen
erhielt ich gleichzeitig etwa 200 Gratulationen, über die ich mich auch gefreut habe. Aber die Karte meines
Freundes ist vom Geburtstag übrig geblieben und
steht bis heute auf meinem Schreibtisch. Das physisch Greifbare ist durch die
Digitalisierung aufgewertet worden.
Die
reale Begegnung ist digital eigentlich nicht möglich.
Ich würde nicht unterscheiden zwischen real und digital. Die virtuelle Welt ist genau so real wie
die analoge Welt. Wenn ich auf Facebook mit gemeinen Kommentaren eingedeckt
werde, dann betrifft mich das ganz real. Ich verwende deshalb die Unterscheidung zwischen physischer und virtueller Welt – beide sind real.
Was fasziniert uns eigentlich am Internet? Und was macht
es gefährlich?
Das Potenzial liegt im
Verbreiten von Wissen und damit im einfachen Zugang zu Bildung. Ich denke etwa
an Lern-Videos über Youtube oder das zeitverschobene Verfolgen von Fernseh-Dokumentationen.
Das ist eine grosse Chance. Heute kann die Grundschulbildung bestehend aus
Lesen, Schreiben und Rechnen über ein Tablet bis an die fernsten Enden der
Erde vermittelt werden. So können schlecht ausgebildete oder rare
Lehrpersonen in Entwicklungsländern mit besserem Material ausgerüstet oder
gar ersetzt werden. In den Slums von Grossstädten funktioniert das aber nur, wenn die Leute genügend zu essen
haben und Zeit, sich der Bildung zu widmen.
Risiken gibt es jede Menge. Ich denke an das Mobbing in Sozialen Medien, das Plündern von Geldkonten, den Betrug durch Phishing-e-Mails, die uns dazu verführen, Passwörter zu verraten. Oder an das Verschicken von Spendenaufrufen im Namen von Leuten, deren e-Mail-Konto gehackt wurde; auch Kreditkarten können gehackt werden. Durch Sicherheitslücken besteht das Risiko des Ausfalls von IT-Systemen: Letztes Jahr gab es eine Hacker-Attacke, bei der Spitäler plötzlich nicht mehr operieren konnten und Logistik-Firmen ihre Container nicht mehr fanden.
Was sind Algorithmen und warum sind sie in der digitalen Welt so wichtig?
Ein Algorithmus ist eine Abfolge von digitalen Befehlen,
ein kleines Programm also, mit dem zum Beispiel das Verhalten eines Nutzers im Internet «automatisch» analysiert werden kann. Google und Facebook arbeiten
mit den Daten, die sie aus
meinem Profil gewinnen. Beim Surfen werden die Links gesammelt, die ich
anklicke. Google merkt sich, wonach ich suche.
So kommen Daten über mich zusammen, die es Google erlauben, mir Werbung
anzuzeigen, die auf mich
zugeschnitten ist und somit für mich eine grössere Bedeutung hat. Als Velofahrer will ich keine Autowerbung sehen, sondern Werbung für ein
e-Bike. Amazon zeigt
mir Werbung an von Büchern, die mich interessieren könnten. Das alles ist
möglich durch clevere Algorithmen.
Woher wissen Google oder Facebook, dass ich es bin,
der im Netz unterwegs ist?
Wegen den Cookies. Das ist die
Identitäts-Nummer meines Laptops. Wenn ich aufs Netz gehe, wird meine Nummer
von der Website gespeichert. Wenn ich am nächsten Tag auf dieselbe Website
gehe, «weiss» die Website, dass mein Laptop gestern schon mal da war. Bei
Facebook verschärft sich die Situation. Ich gebe viele Daten in mein Profil
ein und teile somit auch viel Information über meine persönliche Identität mit.
Personalisierte Werbung ist ja eigentlich eine
praktische Sache. Was ist daran so gefährlich?
Mein Konsumverhalten wird
beeinflusst. Ich werde zu Einkäufen verführt, die ich sonst eigentlich gar
nicht tätigen würde. Und buche vielleicht eine Reise in die Karibik statt
Ferien in der Schweiz zu machen. Google erstellt für mich ein Suchprofil und
wählt dementsprechend die Ergebnisse meiner Suche aus. Ich erhalte also nicht
mehr die ganze Vielfalt von Möglichkeiten. Nur wenn ich im Browser ein anonymes
Inkognito-Fenster öffne, wird der Link zu meinem Profil unterbrochen, und ich erhalte
eine «neutrale» Auswahl.
Im Browser gibt es den Befehl
«Neues Fenster öffnen»
oder «Neues anonymes (oder privates) Fenster
öffen». Ich kann also selber wählen, ob ich eine Datenspur
hinterlassen will. Firmen,
die Google dafür bezahlen,
erscheinen mit ihrer Werbung weit oben und werden – wenn dies meinem Profil
entspricht – deshalb besser beachtet. Das kann natürlich auch sinnvoll genutzt
werden: Das Institut INSIST könnte beispielsweise die Wortfolge «Sinn des Lebens»
bei Google kaufen
und dafür einen bestimmten Betrag pro Monat investieren. Wenn nun jemand
auf der Suche nach dem «Sinn des Lebens» ist, wäre die INSIST-Werbung automatisch weit oben neben
den Suchergebnissen platziert. Wenn eine andere Firma für diese Wortfolge mehr
Geld investieren würde,
würden ihre Angebote
weiter oben angezeigt. Platzierungen von Webseiten
kann man aber – im Gegensatz zur Werbung – bei Google nicht kaufen. Die Webseite des Instituts INSIST
erhält ein höheres
Ranking, wenn mehr Links von andern Webseiten auf die
Webseite INSIST zeigen. Google misst so die Wichtigkeit von Webseiten.
Wichtig ist, sich immer zu vergegenwärtigen: Google, Facebook und Twitter bieten ihre Dienste nicht aus Nächstenliebe an. Sie wollen den Firmen Werbung verkaufen und möglichst viele Leute auf ihre Plattform bringen. Wir bezahlen diese «Gratis-Dienste» mit unseren Daten. Diesen Mechanismus kann man aber mit einem Inkognito-Fenster umgehen.
Wie kann ich einer Sozialen
Gruppe wie Facebook
beitreten? Und: Was bringt
mir das?
Ich muss mich zuerst anmelden
mit meinem Profil, das ich mehr oder weniger ausführlich ausfüllen und – wenn
ich will – mit meinem Bild kombinieren kann. Nun kann ich ein Netzwerk aufbauen.
Ich suche Freunde aus der physischen Welt, die
auch bei Facebook
präsent sind, und lade sie in mein Netzwerk ein. Mit der Zeit werden mir auch die Freunde meiner Freunde angezeigt, die ich
ebenfalls einladen kann. Sie werden so zu meinen «Facebook-Freunden» – auch
wenn ich nicht alle meine «Facebook-Freunde» in der physischen Welt zu meinen
echten Freunden zählen würde. Bei Facebook geschieht diese Einladung
gegenseitig, bei Twitter kann das auch einseitig laufen, man wird also zum
Follower oder erhält Followers. Barack Obama ist logischerweise nicht mit allen
verbunden, die seine Tweets lesen. Über dieses Netzwerk kann ich nun Texte,
Bilder und Filme verbreiten. Wichtig sind dabei emotionale oder humorvolle
Mitteilungen: Freude oder Trauer über ein Ereignis, das mir politisch oder
persönlich wichtig ist. Diese Informationen können von den Followern gelesen
oder auch ausgeblendet werden. Leute, die mich mit zu viel Informationen
eindecken, die mich nicht interessieren, habe ich ausgeblendet, also aus
meinem Netzwerk ausgeschlossen. Die Facebook-Freunde können meine
Informationen (Posts) mit «like», «dislike» und andern Emotionen bewerten. Das
kann dann einen direkten Einfluss auf meine Stimmung ausüben: Wenn niemand auf
meine Ideen reagiert, bin ich wahrscheinlich enttäuscht. Und wenn ich sehe,
wohin meine Freunde in die Ferien fahren, werde ich vielleicht neidisch. Ein
soziales Netzwerk kann also schlechte Gefühle auslösen oder diese verstärken.
Bei Facebook wird Werbung eingeblendet, die beispielsweise auf meinen Wohnort
zugeschnitten ist. Google kennt meinen Aufenthaltsort normalerweise nicht und
hat damit weniger Möglichkeiten für geografisch gezielte Werbung. Facebook
weiss auch, welche Inhalte und Websites ich «like» oder «dislike». Deshalb ist
Facebook v.a. auch für die politische Werbung wichtig. Das kann aber auch
missbraucht werden, wie der aktuelle Skandal um die 50 Millionen Facebook-Profile
zeigt, deren Daten angeblich missbraucht wurden.
Was ist und was kann eine
App?
Mit «App» ist typischerweise
eine Applikation gemeint, die auf einem Smartphone oder Tablet installiert
wird. Man kann die App in einem virtuellen Einkaufsladen wie Google Play oder
Apple iTunes gratis beziehen oder kaufen. Solche Apps werden in den App-Stores
in der Regel auf Sicherheit und Funktionalität geprüft. Die Entwickler müssen
deshalb die App-Stores beim Download (Herunterladen) ihrer App mitverdienen
lassen und/oder – wenn sie gratis sind – dafür eine Aufnahmegebühr zahlen. Wenn
ich über eine App später etwas kaufe, gehen bis zu 30% des Kaufbetrages zum
Beispiel an Google. Ein Riesengeschäft!
Hinterlasse ich auch beim Benutzen von Apps eine digitale Spur?
Beim Installieren der App auf
meinem Smartphone muss ich jeweils angeben, welche Zugriffe ich für diese App
erlauben will: auf den Fotoapparat, auf das GPS (Navigation durch Satelliten),
auf interne Dateien oder auf externe Sensoren. Je mehr ich erlaube, desto mehr
Informationen gewinnt der Entwickler dieser App über mich. Was damit geschieht,
ist für mich nicht kontrollierbar. Theoretisch können die Daten direkt auf das
Internet geladen werden. Die App-Entwickler haben allerdings kein Interesse
daran, meine Daten zu missbrauchen, denn sonst wird die App bald mal aus dem
App-Store gelöscht.
Apps kann man allerdings auch hacken. So können unlautere Kreise Zugang zu
meinen Daten erhalten.
Was kommt mit dem «Internet
der Dinge» auf uns zu?
Das wird uns in
Zukunft noch sehr beschäftigen. Hier kommunizieren nicht mehr Menschen
miteinander, sondern Sensoren. Meine Uhr übermittelt meinem Smartphone Daten,
ohne dass ich aktiv werde. Der Kühlschrank «kennt» seinen Inhalt und kann
verdorbene Waren oder Versorgungslücken melden. Der Aufenthaltsort der Kinder –
oder der Ehepartnerin – kann überwacht werden.
Das ist noch einfach. Aber wenn es um Autos geht, die selbständig fahren, eröffnet sich eine neue Dimension. Dann müssen sich Programmierer plötzlich mit ethischen Fragen beschäftigen, wie: Auf wessen Kosten sollen Unfälle vermieden werden? Und wer trägt die Verantwortung für einen Unfall: der Auto-Hersteller, der Programmierer oder der Insasse?
Wie können die Möglichkeiten der Digitalisierung
im christlichen Bereich positiv eingesetzt werden?
Mit der
Digitalisierung stellen sich neue ethische und pädagogische Fragen. Das löst
neue Bedürfnisse aus: nach mehr Nähe und Geborgenheit und echten Beziehungen.
Dies kann mitten in der Konsumwut Fragen nach dem Sinn des Lebens aufwerfen.
Das Funktionieren einer – vielleicht digital vermittelten Ehe – kann nicht mit
einem Algorithmus gesichert werden. In allen diesen Bereichen können Christen
einen Mehrwert und Antworten anbieten.
Die Digitalisierung kann aber auch als Hilfsmittel
zur Verbreitung des Evangeliums genutzt werden. Sei es innerhalb der Kirchen,
aber auch gegen aussen. Predigten und apologetische Gedanken sind digital
leichter greifbar. Christen können online auf Fragen von Menschen eingehen,
die vielleicht noch nie eine Kirche von innen gesehen haben. Zudem kann
Werbung für christliche Angebote gezielt mit dem digitalen Aufenthaltsort von
suchenden Menschen verbunden werden. So kann in einem allenfalls negativen
Umfeld eine positive Botschaft verbreitet werden. Neben dem Erkennen von
Gefahren, die es überall gibt, sollten wir lernen, die Chancen der
Digitalisierung zu nutzen.
Dieses Interview stammt aus dem Magazin INSIST.
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Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Magazin INSIST