Blatter und Markwalder
«Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein»
In diesen Tagen werden gleich zwei Schweizer in der Luft zerrissen: FIFA-Chef Sepp Blatter und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder. Auf die beiden einzudreschen, braucht wenig Energie. Doch Jesus forderte einst heraus: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. In der Schweiz galt zudem lange Zeit die Unschuldsvermutung.
Die Szenerie aus der Bibel sieht der gegenwärtigen Lage zum Verwechseln ähnlich. Eine aufgebrachte Menge will eine Frau steinigen, der Ehebruch vorgeworfen wird. Rechtzeitig geht Jesus Christus dazwischen. Er sagt nicht, dass niemand einen Stein werfen dürfe – er stellt «nur» eine Bedingung: «Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!» Es dauerte nicht lange und die gerade noch nach Blut lechzenden Selbstgerechten waren in alle Richtungen von dannen geschlichen.Nicht «die Medien», sondern «wir Leser»
Die Steine sind mit Tinte ausgetauscht worden, der Rest ist gleich geblieben. Doch es wäre zu kurz gegriffen, von «Medienhetze» zu sprechen. Es sind nicht «die Medien», die vorverurteilen. Es sind «wir Leser» in den Leserkommentaren, die Blatter und Markwalder zum Zielscheiben-Traumpaar erkoren haben.
Offenbar wissen wir über jedes Wort Bescheid, das Christa Markwalder in den letzten zwei Jahren mit jedem nur erdenklichen Menschen gesprochen hat.
Und «wir» sind es, die haargenau wissen, mit wem Sepp Blatter wann, wie über was gesprochen hat. Wir vergessen, dass von den 209 FIFA-Nationalverbänden nicht jeder einzelne eine Endrunde in die «immer» gleichen Länder vergeben hat – von den insgesamt elf Kandidaten für die WM 2018 und 2022 hatten acht bereits mindestens einmal eine EM oder WM ausgetragen. Tatsächlich scheinen sich mehrere Funktionäre empfänglich für Zuwendungen gezeigt zu haben. Doch ist das der Freipass, um ohne einen Beweis hemmungslos auf Blatter einzudreschen?
In gleicher Manier wurde in den letzten Wochen auf FDP-Nationalrätin Christa Markwalder eingedroschen. Leser fordern ihren Rücktritt, ohne dass bisher belegt ist, ob und, wenn ja, was sich die Politikerin in der «Kasachstan-Affäre» hat zuschulden lassen kommen.
Beurteilung nur anhand von Fakten
Bis Eingangs Mai 2015 galt in der Schweiz die Unschuldsvermutung. Nun zeigt sich innerhalb kurzer Zeit, dass in der Moderne – im Gegensatz zur Antike – die Steine fliegen, ohne zu wissen, ob das Opfer überhaupt ein Vergehen begangen hat. Jesus zeigte sich damals weitsichtiger. Sein «Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein» ist ungleich zivilisierter als die Hetze, die nun geschieht. Denn jene, die jetzt zielgenau werfen, dürften kaum für Ausgleich sorgen, wenn sich herausstellt, dass sie mit ihren Anschuldigungen falsch lagen.
Anhand von Fakten soll das Wirken der beiden genannten beurteilt werden. Dann erst darf geworfen werden. Wer selbst nicht ohne Fehl und Tadel ist, sollte dies allerdings mit einem Bumerang tun.
Zum Thema:
Den kennenlernen, der niemanden verurteilt
Vom Felsen gestürzt: Die Ehebrecherin
Die Zeit der langen Finger: Von allen angegafft
Prominente in den Medien: Schadenfreude oder Vergebungskultur?
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet