Im 1. Weltkrieg
«Stille Nacht» und Weihnachtsfrieden im Schützengraben
Es war ein einmaliges Ereignis: Deutsche und englische Soldaten standen sich vor 100 Jahren im Ersten Weltkrieg beim belgischen Ypern an der sogenannten Westfront gegenüber. Doch an Weihnachten vergassen sie ihre Feindschaft und erlebten mit den Gegnern zusammen für eine Weile «Frieden auf Erden».
«Bis Weihnachten sind wir wieder zu Hause.» Mit dieser optimistischen Vorstellung waren im Juli 1914 viele junge Männer in den Krieg gezogen, der der Erste Weltkrieg werden sollte. Grosse Parolen von vaterländischer Pflicht, heiligem Krieg und der Chance, zu echten Männern zu reifen, hatten am Anfang gestanden. Nach einigen Monaten Kriegsrealität war davon bei den meisten Soldaten nichts mehr übriggeblieben.
Allein um die belgische Stadt Ypern herum starben im grossen Krieg insgesamt eine halbe Million Menschen. Immer noch werden hier jährlich um die 100 Tonnen an Munition geborgen. Ein Museum zeigt der Nachwelt die Grausamkeit des Krieges. Vor sechs Jahren wurde aber in der St.-Martins-Kathedrale ein Friedenspreis für das Wunder des Weihnachtsfriedens 1914 verliehen.
Weihnachten auf dem Schlachtfeld
Im Dezember 1914 ist das angebliche Feld der Ehre längst ein Leichenfeld geworden. Der Regen in Flandern hat aufgehört und langsam sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Die Pfützen in den Granattrichtern verschwinden unter einer dünnen Eisschicht. Der Nebel verzieht sich und gibt den Blick frei auf die Körper der Toten, die zum Teil schon seit Wochen im Niemandsland zwischen den Schützengräben liegen.
Normalerweise hätten die Soldaten jetzt mit ihren Familien in einem geschmückten, geheizten Raum am Weihnachtsbaum gestanden. Jetzt aber stehen sie mit dem Gewehr in der Hand in der Winterkälte Belgiens und haben Angst, nie wieder nach Hause zu kommen. Längst sind sie auch an der Front mit Weihnachtlichem versorgt: Die Deutschen haben festlich geschmückte Tannenbäume erhalten, die Engländer Mistelzweige. Aber Weihnachtsstimmung stellt sich verständlicherweise nicht ein, als es am Heiligen Abend dunkel wird.
«Stille Nacht» in der Nacht
Anspannung, Abwarten und Lauerstellung beherrschen die Stimmung im Schützengraben. Irgendjemand fängt an zu summen, singt schliesslich «Stille Nacht». Ein anderer stimmt ein. Dann singen Hunderte. Sie singen alle Weihnachtslieder, die sie kennen. Als sie mit ihrem Repertoire am Ende sind, bleibt es einen kurzen Moment still, dann rufen die Engländer: «Encore – Zugabe.» Als Antwort erschallt ein vielstimmiges: «Merry Christmas, Englishmen.» Irgendwann ruft jemand: «We not shoot – you not shoot.» Und kurz darauf ragt der erste Tannenbaum mit angezündeten Kerzen aus dem Schützengraben. Auf beiden Seiten werden Lichter und Laternen angezündet und auf die Brustwehr gestellt. Einige Mutige nehmen gar ihre Laterne und gehen den Feinden entgegen. Jetzt hätte nur ein Soldat schiessen müssen, dann wäre alles in sich zusammengefallen – doch es bleibt friedlich.
Das Weihnachtswunder geschieht
Bald stehen die ersten Gruppen im Niemandsland zusammen. Man beäugt sich zwar noch misstrauisch, aber man redet miteinander. Diese Nacht soll nichts mehr geschehen, aber am folgenden Tag wollen alle ihre Toten beerdigen, die im Niemandsland liegen. Und dann wollen sie Weihnachten feiern – miteinander.Am kommenden Morgen kehren die Soldaten zurück, mit Schaufeln und Spaten in der Hand. Friedlich beerdigen sie ihre Toten. Anschliessend wird bunt und fröhlich miteinander Weihnachten gefeiert: Die Männer singen zusammen, sie reden, rauchen, essen und trinken zusammen. Ein Schwein, das sich zwischen die Fronten verirrt hat, ist das einzige «Opfer» dieses Tages und landet am Spiess.
Dann fangen die Soldaten an zu spielen: Fussball steht ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Wer einen Ball hat, bringt ihn her, andere umwickeln Stroh mit Draht oder nehmen Konservenbüchsen als Ersatz. Bei dem matschigen, halb gefrorenen Boden und mit Armeestiefeln an den Füssen, ist sowieso nicht an ein richtiges Spiel zu denken. Doch Tore spielen hier keine Rolle. Wie die Kinder rennen die Soldaten hinter ihren Bällen her, lassen sich von ihren Zuschauern anfeuern und helfen sich gegenseitig auf, wenn mal wieder jemand im Dreck gelandet ist.
Auch ein gemeinsamer Weihnachtsgottesdienst wird gefeiert. «Der Herr ist mein Hirte…», beten die deutschen Soldaten und die Engländer stimmen ein: «I shall not want…». Ein britischer Offizier erinnert sich: «Die Deutschen standen auf der einen Seite zusammen, die Engländer auf der anderen. Die Offiziere standen in der vordersten Reihe, jeder hatte seine Kopfbedeckung abgenommen. Ja, ich glaube, dies war ein Anblick, den man nie wieder sehen wird.»
«Bitte recht freundlich»
Dieser seltsam und unwirklich anmutende Frieden inmitten des Krieges dauert ein paar Tage. An manchen Frontabschnitten hält er ein paar Wochen, an einigen wenigen sogar bis zum nächsten Weihnachtsfest. Natürlich fotografieren die Soldaten ihre Erlebnisse mit dem Feind. Lachende Soldaten, Arm in Arm mit dem Gegner, und einer trägt einen Ball. Die englische Zensur kann es nicht verhindern, dass diese ungewöhnlichen Fotos in der Heimat verbreitet werden. Die Deutschen erfahren, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg davon. Die seltsame Waffenruhe zeigt ihre Auswirkungen: In manchen Frontabschnitten gibt es über Monate keine Gebietsgewinne, aber es sind auch keinerlei Menschenleben zu beklagen.
Dieser Friede, die neue Gesprächskultur, zeigt sich auch, als der explizite Befehl kommt, den Kampf wieder aufzunehmen. Ein sächsisches Regiment trifft sich mit den Briten zur Tea-Time, die Engländer kochen Tee, die Sachsen bringen Schnaps mit. Und dabei informieren die Deutschen ihre Gegner: «Gentlemen, unser Oberst hat befohlen, ab Mitternacht das Feuer wieder aufzunehmen. Es ist uns eine Ehre, Sie darüber zu informieren.»
«Frieden auf Erden»
Als die Sachsen an diesem Tag wieder in ihre Schützengräben zurückkehren, ist es allen – auch ihren Gegnern – klar, dass sie am nächsten Tag wieder schiessen werden. Irgendwohin. Ganz sicher nicht mehr auf die Menschen, mit denen sie bis eben gespielt, geredet, gebetet oder geraucht haben.
Der Weihnachtsfrieden ist als einmaliges Ereignis in die Geschichtsbücher eingegangen. Es gibt zahllose Erklärungsversuche dafür. Manche unterstreichen pessimistisch seine Einmaligkeit und die geringen Auswirkungen auf den gesamten Krieg, der immerhin noch vier Jahre dauern und insgesamt 17 Millionen Menschen das Leben kosten wird. Andere verklären das Ganze romantisch zu einem Stück Himmel auf Erden.
Sicher greift beides zu kurz. Aber der Weihnachtsfrieden zeigt etwas von der tiefen Sehnsucht im Menschen und dem Angebot Gottes, das die Engel in der biblischen Weihnachtsgeschichte aufgreifen: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.» (Lukasevangelium, Kapitel 2, Vers 14)
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet