Triggerwarnungen

Kurt Cobain und Heman, der Esrachiter

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Adrian Furrer (Bild: schauspieler.ch)
Triggerwarnungen werden seit einigen Jahren bei Büchern, Filmen und Artikeln angegeben. Bräuchte die Bibel eigentlich auch solche Triggerwarnungen? Gedanken dazu von Schauspieler und Pfarrer Adrian Furrer.

Seit gut zwei Jahren bürgert es sich in der deutschsprachigen Kulturlandschaft ein, dass Bücher, Filme oder Zeitungsartikel mit dem Hinweis gekoppelt werden, dass deren Inhalte verstörend wirken oder bei Menschen Traumata wieder hervorrufen können.

Das Schauspielhaus Zürich hat sich dafür entschieden, schon auf der Webseite darauf hinzuweisen, wenn Aufführungen verletzende Erlebnisse aufs Neue hervorrufen können. Da wird zum Beispiel auf laute Musik und auf grelles Stroboskoplicht hingewiesen, auf die Darstellung von Suizid im «Ödipus» von Sophokles, und beim «Wilhelm Tell» wird davor gewarnt, dass hier Gewalt und Racial Profiling gezeigt werden.

«Das grosse Heft»

«Im Stück werden Themen wie Tierquälerei, Kriegsverbrechen, Folter, Mord und sexuelle Gewalt, auch gegenüber Kindern, behandelt.» So lautet die Triggerwarnung des Theaters Ulm im Programmheft zu einer ihrer Aufführungen. Gezeigt wird eine Dramatisierung von «Das grosse Heft» der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf. Der Roman ist 1987 erschienen und gilt als einer der ganz wichtigen Texte des 20. Jahrhunderts. Er erzählt die Geschichte von zwei Zwillingsbuben, die von ihrer Mutter zu ihrem Schutz vor dem Krieg aus der Stadt zur Grossmutter aufs Land gebracht werden. Doch wie alle Beziehungen in diesem Buch ist auch das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter völlig zerrüttet, und anstatt einer zärtlich beschützenden Oma erwartet die Jungs eine Frau, die ihrem Ruf als Dorfhexe aufs schlimmste gerecht wird. Sie beutet ihre Enkel aus, schlägt sie und lässt sie hungern, die beiden Kinder sind für sie nur die «Hurensöhne». Die Mutter hat ihre Söhne nicht in Sicherheit, sondern in eine neue Katastrophe gebracht.

Die Ankunft im Dorf ist der Anfang eines unvorstellbaren Ritts durch die Hölle der menschlich unmenschlichen Abgründe während des 2. Weltkriegs. Für die beiden sensiblen und von ihrer Mutter bisher liebevoll umsorgten Schulkinder besteht die einzige Chance zu überleben darin, sich vollständig emotional und körperlich abzuhärten. Sie werden selber zu Tätern, zu kalten Rächern an denen, die ihnen Unrecht tun.

Es sind bestürzende, aufwühlende, brutale, hoffnungslose Stunden, welche die Zuschauer ohne Pause im Keller des Ulmer Theaters durchleben. Und es sind notwendige Stunden. Stunden, denen sie nicht entrinnen können, indem sie das Buch weglegen oder das Radio ausschalten. Diese Stunden sind notwendig, weil sie die Zuschauer wenigstens einen Abend lang mit den existenziellen Mitteln des Theaters daran erinnern, was es heisst, einem Krieg ausgesetzt zu sein – seiner Brutalität, Kälte und Hoffnungslosigkeit und damit einer tödlichen Gewalt ganz ohne Triggerwarnung. 

Kurt Cobain und der Psalm 88

Vor kurzem war ich als Vertreter von Arts+, dem Künstlernetzwerk unter dem Dach der Evangelischen Allianz, zu einem Leitertreffen von christlichen Initiativen in der Gesellschaft eingeladen. Dabei begegnete mir ein grosses Wohlwollen für unsere Arbeit, eine Zugewandtheit und ein Interesse, die noch vor wenigen Jahren alles andere als selbstverständlich gewesen wären. Aber es begegnete mir auch ein Missverständnis.

«Das ist so was Tolles», meinte beim gemeinsamen Mittagessen einer meiner Tischnachbarn, «das ist so was Tolles, dass es auch in der Kunstwelt immer mehr Christen gibt. So kann diesem ganzen Negativen, das dort gezeigt wird, wieder das Schöne und Positive entgegengehalten werden.» Und er verglich den Wohlklang der Musik Johann Sebastian Bachs mit dem für ihn ohrenbetäubenden Lärm des durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Leadsängers der Band Nirvana, mit Kurt Cobain, der Ikone der Grunge-Musik der 1990er Jahre. Cobain war bekannt für seine hoffnungslosen, teils brutalen, aufwühlenden und oft bestürzenden Songs und Bühnenauftritte.

«Vielleicht stehen Kurt Cobain und seine Band Nirvana für den 88. Psalm der Musikgeschichte», entgegnete ich meinem Tischnachbarn. Cobain erzähle vielleicht in neuer Weise das, was der traurigste Psalm der Bibel ausdrückt, dass Geschichten nämlich manchmal erst in der puren Hoffnungslosigkeit aufhören, in der Schwärze der Nacht. «Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf (…), deine Schrecken vernichten mich, sie umgeben mich täglich wie Fluten (…). Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis.» So singt Heman, der Esrachiter, am Schluss seines Psalms. 

«Mein Mädchen, mein Mädchen, wohin wirst du gehen? Ich gehe dorthin, wo der kalte Wind weht. Unter den Birken, unter den Birken, wo die Sonne niemals scheint, (dort, wo) ich zittere, die ganze Nacht.» So endet einer der traurigsten Songs von Nirvana (Where Did You Sleep Last Night, aus dem Album Nirvana – MTV Unplugged In New York, 1994).

Ohne Klage keine Hoffnung

Der Bochumer Theologieprofessor Günther Thomas thematisiert in seinem neuesten, sehr empfehlenswerten Buch «Im Weltabenteuer Gottes leben – Impulse zur Verantwortung in der Kirchdie Signatur des christlichen Glaubens. Für ihn ist es der paulinische Dreiklang Glaube – Hoffnung – Liebe aus dem 1. Korintherbrief. Er beschreibt aber auch, dass die Mitte dieses Dreiklangs, die Hoffnung, nicht ohne die Klage zu haben sei: «Die Kirche wird nur dann die Lebendigkeit Gottes entdecken, wenn sie wieder riskiert, zu klagen (…). Die Klage ist der Ort der Verzweiflung und der Wut über die Mächte der Lebenszerstörung. Nur die Klage verhindert, dass Gott nicht mit den Mächten der Lebenszerstörung verflochten wird.» (S. 260f.) Wer nicht klage, der glaube und hoffe im Modus der Sparflamme. Radikale Hoffnung werde erst möglich und virulent durch die Klage, die Wahrnehmung und Erfahrung der Abwesenheit von Gottes Gerechtigkeit in dieser Welt.

Die Bibel beschreibt beides, die Verlorenheit wie auch die Hoffnung der Welt. Sie jubiliert über die Grösse Gottes und beklagt mit drastischen Worten die menschlichen und gesellschaftlichen Abgründe. Auch die Kunst braucht beide: Bach und Cobain. Künstlerinnen und Künstler, ob christliche oder nicht christliche, die den Mut und die Demut haben, in die Schönheit einzutauchen sowie Künstlerinnen und Künstler, die den Mut und die Demut haben, sich mit der Leere, der Brutalität, der Hoffnungslosigkeit und Gewalt auseinanderzusetzen, solche wie Ágota Kristóf und Kurt Cobain.  Die Transzendierung der Welt ist ohne Beschreibung der Welt nicht zu haben. Überwunden wurde die Welt mit der Todesleere Jesu am Kreuz.

Und nur so wird die Triggerwarnung möglich: Diese Botschaft kann Ihr Leben verändern.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Forum Integriertes Christsein

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Datum: 09.12.2022
Autor: Adrian Furrer
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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