Aus Angst vor säkularer Intoleranz
Praktizieren Christen Selbstzensur?
Christen, die es aufgrund säkularer Intoleranz schwierig finden, ihren Glauben in der Gesellschaft frei zu äussern, praktizieren «verschiedene Formen der Selbstzensur». Das stellt eine internationale Studie fest.
Der Bericht mit dem Titel «Perceptions on Self-Censorship: Confirming and Understanding the 'Chilling Effect'» (etwa: «Beobachtungen zur Selbstzensur: den abschreckenden Effekt feststellen und verstehen») wurde von der Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung von Christen in Europa (OIDAC), der Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit in Lateinamerika und dem Internationalen Institut für Religionsfreiheit erstellt. Die Studie, veröffentlicht im Juni 2022, enthält Fallstudien aus Frankreich, Deutschland, Kolumbien und Mexiko.
Furcht vor negativen Folgen
«Säkulare Intoleranz hat eine abschreckende Wirkung auf Christen, was sich direkt auf ihre Fähigkeit auswirkt, ihren Glauben in der Gesellschaft frei zu äussern und zu verschiedenen Formen der Selbstzensur führt», heisst es in der Studie. «Einige Menschen fürchten tatsächlich, wegen Diskriminierung gerichtlich verfolgt oder strafrechtlich sanktioniert zu werden, während andere ein Disziplinarverfahren an ihrem Arbeitsplatz befürchten.»
«Mit einigen Ausnahmen entschied sich die Mehrheit dafür, ihre Glaubensbekundungen oder ihre Meinungen zu Fragen des Lebens, der Ehe und der Familie aus Sicht der christlichen Lehre geheim zu halten, weil sie Zeuge von Sanktionen oder Strafverfolgungen geworden waren, denen Kollegen oder Gleichaltrige ausgesetzt waren», so der Bericht weiter.
Kleine Erlebnisse mit Abschreckungseffekt …
Die Autoren des Berichts betonen, dass einige der in dem Bericht zitierten Vorfälle zwar unbedeutend erscheinen mögen, aber in ihrer Summe dazu führen könnten, dass sich Gläubige unwohl fühlen, wenn sie ihren Glauben ausleben und ausdrücken. «Ein paar Kratzer bringen Sie nicht um und tun kaum weh. Aber ständige kleine Schläge haben schliesslich eine Auswirkung. Wir gehen davon aus, dass die Anhäufung scheinbar unbedeutender Vorfälle ein Umfeld schafft, in dem sich Christen – bis zu einem gewissen Grad – nicht wohl dabei fühlen, ihren Glauben frei zu leben», erklärt der Bericht. «In der Tat erleben westliche Christen einen 'Abschreckungseffekt' (chilling effect), der aus dem wahrgenommenen Druck in ihrem kulturellen Umfeld resultiert, der mit Fällen und Berichten zusammenhängt, die in den Medien ein grosses Echo finden.»
… unsichtbar und subtil
«Aufgrund der subtilen und im Allgemeinen nicht gewalttätigen Natur des Abschreckungseffekts wird dieser oft missverstanden oder sogar ignoriert und bleibt daher weitgehend unsichtbar», so der Bericht weiter. «Dies ist der Hauptgrund, warum das Phänomen in Forschungen zur Religionsfreiheit wie den Indizes des Pew Research Center nicht erfasst wird», so die Autoren.
Der Bericht stellte fest, dass die Selbstzensur nicht nur Christen daran hindert, ihre religiösen Überzeugungen auszudrücken, «sondern dass diese Verletzungen des Rechts auf Religionsfreiheit auch dazu führen können, dass die Religion in einem bestimmten Kontext verschwindet.» Laut Madeleine Enzelberger, Geschäftsführerin von OIDAC Europe, wirft die Studie «die berechtigte Frage auf: Wie ist es möglich, dass in einer reifen, liberalen demokratischen Gesellschaft, die für Toleranz, Vielfalt und einen inklusiven und offenen Diskurs steht, Menschen Angst haben, ihre Meinung frei zu äussern?»
Den meisten nicht bewusst
Die meisten christlichen Teilnehmer der Studie merkten nichts von ihrer selbst auferlegten Zensur. Einige hätten sich, so die Studie, ihre Meinung so regelmässig zurückgehalten, dass sie aufgehört hätten, «die mit der Selbstzensur verbundenen Merkmale als Problem zu sehen». «Die Kirche hat es zugelassen, sich selbst zu zensieren... Christliche Leiter haben mehr Freiheit, sich frei zu äussern, aber sie machen nicht immer davon Gebrauch», so die Studie.
Religiöses Analphabetentum bekämpfen
Als Reaktion auf die Selbstzensur betonten die Autoren, dass es «dringend notwendig ist, politische Entscheidungsträger, Beamte (einschliesslich der Polizei) und Richter über Religion aufzuklären, um ihre religiöse Bildung zu verbessern».
«Wir haben gesehen, dass ein hohes Mass an religiösem Analphabetentum zu einem Missverständnis darüber führt, wie Religion das Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft beeinflusst und welche Rolle die Religion im öffentlichen Raum spielt», schreiben die Autoren. «Religiöser Analphabetismus kann daher die Ursache für 'praktische Intoleranz' gegenüber Christen sein.»
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Christian Post