Gemeindekultur heute

Wo sind die Intellektuellen in der Kirche?

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Frédéric Guerne (Bild: Digger.ch)
Wir kennen die Diskussion, ob heutige Kirchenlieder oberflächlicher geworden sind als die traditionellen aus den «guten, alten Zeiten». Ingenieur Frédéric Guerne stellt sich ähnliche Fragen zu intellektuellen Tendenzen in den Gemeinden. Als Wissenschaftler liebt er die grossen Zusammenhänge in der Natur und im Universum, und sein Hintergrundwissen führt ihn immer wieder zum Staunen. Etwas, das er sich wieder mehr in den Kirchen wünscht.

Frédéric Guerne ist Gründer und CEO der Stiftung «Digger», die Kambodscha und afrikanische Länder von tödlichen Landminen befreit. Sein Ingenieur- und Forscherherz schlägt nicht nur für Menschen, sondern auch für Kirchen; und leidet nicht selten mit ihnen. Zu oft begegnet er dem Oberflächlichen, wo er sich mehr Tiefe und Wissen wünschen würde.

Ebenso hat Guerne ein Herz für Christen in technischen Berufen. Dort ist es ihm ein Anliegen, wie christliche Berufsleute Gott in ihren Arbeitsalltag integrieren können. Das Wichtigste sei, so Guerne, die Liebe füreinander.

Für Hirn, Herz und Hund

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Minensuchhund
Frédéric Guerne liebt es, mit Leuten diverser Weltanschauungen zusammen zu arbeiten, so ist auch Digger sehr breit aufgestellt und hat namhafte Unterstützer wie Didier Cuche, die Prinzessin von Kambodscha oder den Direktor von Longines – und Hunde als Mitarbeiter. Die sind direkt an der Front mit den Minen beschäftigt. Also, Technik und Lebewesen zusammen im Einsatz.

Livenet war mit dem Techniker und Familienvater vom Jura im Austausch (aus dem Französischen übersetzt).

Worin sehen Sie das Problem, weshalb hat das Intellektuelle nicht so Platz im Gemeindeumfeld?
Frédéric Guerne:
Das Problem vom Integrieren der Intellektuellen in unseren Kirchen ist meines Erachtens tiefer als was grad an der Oberfläche sichtbar ist. Es variiert je nach Kirche, der Denomination, der Region etc. Die evangelikalen Milieus sind traditionellerweise offen für Neues, was eine gute Sache ist. Dies kann gefährlich werden, wenn man sich allem öffnet, man Offenheit mit Populismus verwechselt. Populismus im Sinne von zu einfachen Antworten auf komplexe Thematiken; im Stile von «Wenn – Dann». Es ist ein zu stark vereinfachtes Schwarz-Weiss-Denken, wo es nur das «Entweder-Oder» gibt und nichts dazwischen. Der Glaube und die Welt sind vielschichtiger.

Leider scheint mir, dass seit mehreren Jahren unsere Gottesdienste tieferen Inhaltes beraubt und mit gefühlsmässigem und theologischem Basiswissen ersetzt wurden, teils mit etwas Mystik. Die Gefühle sind nicht grundlegend schlecht, sie sind Teil unseres Lebens, aber sie sollten und in einer gewissen Balance sein. Die evangelikalen Kirchgänger scheinen mir etwas zu Fast-Food-Christen zu werden: Es ist lecker, aber es nährt nicht wirklich.

Und da komm ich auf die gestellte Frage zurück, weil ich finde, dass sich die Intellektuellen weniger und weniger in unseren Kirchen aufhalten, weil sie dort keinen Platz mehr für sich sehen.

Wie könnten sich Wissenschaftler und Intellektuelle mehr in die Kirche einbringen?
Die Frage ist nicht, wie sich die Intellektuellen mehr in der Kirche einbringen können, sondern dass wieder mehr Inhalt in unsere Predigten und Aussagen kommen. Es schockiert mich total, wenn ich merke, dass es quasi unmöglich ist, ein konstruktives Gespräch über Themen der Herkunft oder geschichtlichen Hintergrund der Schriften, den Ursprung des Universums und des Lebens oder sogar Philosophisches zu führen. Dann bricht man ab, reagiert mit Angst und mit längst vorgefassten (und oft katastrophalen) Antworten.

In diesem Moment, wiederholt man, dass die Kirche nicht elitär sein sollte, und das ist wahr. Aber es gibt einen Unterschied zwischen zu viel Wissenschaft – die Kirche ist ja keine Uni – und zu starkem Vereinfachen, wo es plötzlich nicht mehr der Wahrheit entspricht. Zu oft werden Passagen aus der Bibel gerissen, die dann zu wenig erforscht und reflektiert wiedergegeben und angepasst werden, sodass sie nicht mehr der eigentlichen Aussage entsprechen. Für einen Kenner ist das teilweise schockierend oder lächerlich.

Wie könnte die Glaubensgemeinschaft mehr von diesen Ansichten profitieren?
Unsere Kirchen sollten sich mehr dem Reflektieren öffnen: der Geschichte, der Philosophie, der Kunst, der Wissenschaft… denn diese Türen zu schliessen bedeutet per Definition, sich zu verschliessen – und sich verschliessen heisst, in Angst zu leben, Angst vor dem, das man nicht kennt, nicht versteht.

Ich nehme beispielsweise das wissenschaftliche Denken, dem Wirklichen, nicht demjenigen, wo man denkt, man wisse alles. Ein Wissenschaftler, ein Forscher (Physiker, Chemiker, Historiker, Ethnologe, Theologe, Ökonom etc.) hat keine Angst, etwas zu entdecken, das er nicht versteht. Im Gegenteil, das ist sogar sein kostbarster Traum! Der wahre Forscher lebt in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das sein Wissen anschubsen und revolutionieren wird. Der Glaubende seinerseits lebt eher in der Angst, dass ihm der Glaube aus dem Ruder läuft. Wer von beiden hat mehr Glaube?

Am Anfang meiner Hochschulzeit habe ich das sehr stark erlebt. Als junger Christ hatte ich bei jeder Chemie- oder Physiklektion Angst, dass man mir beweisen könnte, dass Gott nicht existiert. Mit den Jahren erkannte ich, dass nichts in der Wissenschaft meinen Gott erschüttern kann, dass er über allem steht und der Ingenieur ist, der alles konstruiert hat. Später realisierte ich sogar, wie stark er seine Spuren in der Schöpfung, der Schönheit, in der Komplexität und auch in der Poesie hinterlassen hat. Von da an ersetzte ich die Angst mit der Faszination, dem Staunen gegenüber all dem, was ich an seiner Grösse, seiner Schönheit, seiner Kreativität erlebte. Wenn die Intellektuellen und Wissenschaftler Stolz und lächerliche Überlegenheit abschütteln würden, könnten sie etwas Phantastisches, Erhabenes in unsere Kirchen bringen: Die Angst in Staunen verändern!

Noch zum Abschluss: Seit einigen Jahren hat die Welt die «Fake News» entdeckt und weit verbreitete Verschwörungstheorien. Sie sind die wahren Plagen der Moderne und machen nicht vor unsern Milieus halt. Nur fundierte Bildung und der echte Dialog in unseren Kirchen können diese neue Pandemie bekämpfen.

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Aufnahme des Hubble-Teleskops illustriert die Größe und Weite des Universums.
Was möchten Sie Ihren Berufskollegen mit auf den Weg geben, bezüglich den Glauben im Arbeitsalltag zu integrieren?
Für mich ist jeder Tag ein Geschenk, jeder Anlass unter dem Blick Gottes, und die Natur, die alles umgibt, ist seine Schöpfung. In diesem Kontext ist es nicht weniger als natürlich, seinen Glauben zu teilen, es ist wie das Atmen; ohne dass ich das Gegenüber «bekehren» muss. Mich fasziniert eine mathematische Formel, die genau in ein Lebensproblem passt, oder die Vorstellung, dass jede Sekunde Millionen von unsichtbaren Partikeln des Kosmos um mich herumschwirren. Das bringt mich zum Träumen und Staunen. Also teile ich quasi nie Dogmen des Glaubens, die mir nichts sagen, sondern im Gegenteil, sind es Bereiche, die mich selber berühren und ich leidenschaftlich dafür bin.

Zur Person:
Wohnort:
Courtelary, im bernischen Jura
Familie: Verheiratet mit Béatrice und Vater von Jonathan und Lydie
Beruf, Ausbildungen:
Ingenieur ETS auf Elektronik
Alter:
51 Jahre
Hobbys:
Bierbrauen

Ausflugstipp: Besuch der interaktiven Ausstellung

Zum Thema:
Hilfe aus dem Jura: Roboter und Rassenhunde gegen Landminen
Zeit der leeren Kirchen?: Tomas Halik: «Gleichgültige Haltungen sind nicht unveränderbar»
Glaube und Zweifel: Die unermüdliche Jagd nach Wahrheit

Datum: 16.04.2021
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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