Gleichnisse verstehen

Warum Gnade sich ungerecht anfühlt

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Wenn Jesus Geschichten erzählt, begegnen sich darin höchst irdische Situationen und himmlische Gedanken. Zum Beispiel in seinem Gleichnis von Arbeitern im Weinberg, die überraschend gleich bezahlt werden. Die Geschichte ist nicht schwer zu verstehen, aber je mehr wir sie auf uns beziehen, desto falscher fühlt sie sich an.

Die eigentliche Geschichte ist schnell erzählt. Wie jeden Morgen zur Erntezeit ging der Grossbauer auf den Marktplatz und stellte Erntehelfer ein, denn die Weinlese hatte begonnen. Er fand etliche, bot ihnen einen vernünftigen Lohn (einen Silbergroschen / Denar pro Tag) und sie begannen zu arbeiten. So weit, so normal. Doch der Bauer kam auch um 9, um 12 und um 15 Uhr noch einmal auf den Markt. Er stellte ein, wen immer er fand, denn es war viel zu tun. Sein Angebot war: «Was recht ist, das werdet ihr empfangen!» Offensichtlich war sein Ruf so gut, dass die Tagelöhner sich darauf einliessen. Sogar um 17 Uhr, eine Stunde vor Arbeitsende, kamen noch einige zum Helfen. Beim Auszahlen des Lohns kam es dann zum Eklat: Der Bauer liess die zuletzt Gekommenen zuerst antreten und gab ihnen den vollen Tageslohn. Das störte die anderen allerdings erst, als sie auch nur den vereinbarten Tageslohn bekamen – und nicht etwa mehr. Darauf fragte der Grossbauer in der Geschichte zurück: «Blickst du darum neidisch, weil ich gütig bin?»

Das gesamte Gleichnis von Jesus finden Sie in Matthäus, Kapitel 20, Verse 1–16.

Gefühlte Ungerechtigkeit

Joshi fühlt sich gut: verschwitzt, aber zufrieden. Wie so viele seiner armen Freunde und Nachbarn stand er schon zu Sonnenaufgang im Dorf, um für diesen Tag als Erntehelfer eingestellt zu werden. Weinlese im August – das ist harte Arbeit, aber lukrativ. Doch jetzt hat sich seine Zufriedenheit aufgelöst wie Zucker im Kaffee: Hat er das eben richtig gesehen? Erst bekommt der alte Simon, der erst ein Stündchen im Weinberg war, und noch nicht einmal nassgeschwitzt ist, tatsächlich dasselbe, was man ihm selbst versprochen hat. Und während er noch rechnet, wie viel mehr er dann wohl bekommt, hat er schonen seinen Denar in der Hand. So eine Frechheit!

Joshi überlegt sich noch, ob er lieber schreien oder gleich vor Wut platzen soll. Und damit ist er in guter Gesellschaft. Denn Jesus bringt mit seiner Geschichte unvergleichlich gut auf den Punkt, wie schnell wir das Gefühl bekommen, ungerecht behandelt zu werden, wie schnell wir andere beneiden. Dazu ist nur ein kurzer Blick auf andere nötig. Wenn ich von meinem Gehalt gut leben kann, ist das so lange ausreichend, bis ich jemanden kennenlerne, der weniger arbeitet und dafür mehr bekommt. Ungerecht! Wenn ich im Urlaub zufrieden im Allgäu wandere, reicht mir das völlig aus, bis mir mein Nachbar seine Urlaubsfotos zeigt: «Malediven. All inclusive. Es gibt nichts Besseres!» Ungerecht! Und dieser Blick nach nebenan macht auch vor der Gemeinde nicht halt. Oder warum kann Christoph neben mir nicht nur besser singen als ich, wird stärker beachtet und gründet einen Hauskreis, der sich sofort rasant weiterentwickelt? Warum hat er gefühlt alle Gaben und ich beinahe keine? Ungerecht!

Willkommen in der Neid-Spirale: Tatsächlich ist diese Emotion kein «Kavaliersdelikt» neben den «grossen Sünden» wie Götzendienst oder dem Verwenden von Gendersternchen im Gemeindebrief. Jakobus unterstreicht in seinem Brief sogar: «Wo Neid und Selbstsucht ist, da ist Unordnung und jede böse Tat» (Jakobus, Kapitel 3, Vers 16). Da ist es doch sehr spannend, dass ich (Sie etwa auch?) die Emotionen so gut nachvollziehen kann, die Jesus in seinem Gleichnis erzeugt.

Berechneter Segen

Vielleicht ist eine Grundlage für diese Missgunst im frommen Bereich das, was auch dieser Geschichte vorangeht: Engagiert folgen die Jünger Jesus nach. Sie glauben an Gott, wollen ihm gehorchen und setzen sich auch noch für andere Menschen ein. Doch dabei fangen sie auch gern an zu rechnen. So wie Petrus in Matthäus, Kapitel 29, Vers 27, der sich an Jesus wendet: «Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns dafür zuteil?»

Der Massstab ist klar: die Arbeitswelt. Damals bekommt ein Tagelöhner einen Denar. Heute bekommt ein gelernter Dachdecker in Deutschland nach Tarif mindestens 13,60 Euro pro Stunde. Und was bekomme ich dafür, wenn ich mich als Christ fürs Reich Gottes engagiere?

In seinem Gleichnis beantwortet und entlarvt Jesus dieses Denken, dass Gott mir etwas geben müsste, weil ich mich angestrengt habe, ihm nachzufolgen. Das Paradoxe ist: Gott gibt ja. Und er segnet. Er rettet. Aber eben nicht nur mich, sondern auch andere – die es irgendwie nicht so verdient haben wie ich. So bleibt auch in der Bibel immer wieder die Spannung bestehen, dass Gott durchaus «gute Werke» erwartet, «die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen». Gleichzeitig nimmt Gott das Leben mit ihm aus dem Zusammenhang des Verdienens völlig heraus: «Denn aus Gnade seid ihr errettet durch den Glauben, und das nicht aus euch — Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme» (Epheser, Kapitel 2, Verse 8–10).

Willkommen in der Mathematik-Spirale: Offensichtlich denkt Gott nicht in Kategorien wie «grösser», «kleiner» oder «gleich». Stattdessen sprengt er diese Erwartungen – und bietet nicht weniger, sondern mehr. Deshalb sagt Jesus: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es im Überfluss haben» (Johannes, Kapitel 10, Vers 10).

Bedingungslose Gnade

Im Gleichnis schaut Joshi auf den alten Simon: «Was hat der schon getan? Ich habe gut gearbeitet.» Bei Jesus schauen die Jünger auf andere Menschen: «Was haben die schon getan? Wir haben alles für ihn verlassen.» In der Kirchengeschichte schauten erst die Juden auf die Christen: «Was haben die schon getan? Wir haben die jahrhundertelange Geschichte mit Gott.» Und dann die Christen auf andere: «Was haben die schon getan? Wir haben das Heil in Jesus.»

Das Gleichnis von Jesus hat viele Deutungsebenen – nicht zuletzt die ganz persönliche: Wie gehe ich damit um, dass Gott so wie der Grossbauer seine Gnade nicht nur mir schenkt, sondern auch noch vielen anderen? Anderen, die sie mehr verdient haben als ich, oder die sie viel weniger verdient haben als ich.

Willkommen in der Kindergarten-Spirale: Manchmal kommen zwei Kinder zu ihrer Erzieherin oder ihrem Kindergottesdienstleiter, bauchen sich vor ihnen auf und fragen nach: «Wen hast du eigentlich lieber, mich oder sie?» Für Kinder ist dieses Verhalten und diese Frage völlig in Ordnung. Bei mir als Erwachsener passt sie nicht mehr. Vor allem nicht, wenn ich damit zu Gott gehe. Kinder sind übrigens in der Regel hochzufrieden, wenn man sie anlächelt und ihnen sagt: «Ich mag euch beide.» Menschen haben sich schon immer damit schwergetan, dass Gottes Liebe nicht an Bedingungen geknüpft ist. Doch das ist nicht ungerecht: Es ist souverän. Der Apostel Paulus unterstreicht in diesem Zusammenhang: «Was wollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne! Denn zu Mose spricht er: 'Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich'. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen» (Römer, Kapitel 9, Verse 14–16). Gut, dass diese Gnade «jeden Morgen neu» ist.

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Datum: 09.05.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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