Das volle Boot
Wie Bonhoeffer Schweizer Pfarrer zum Widerstand ermutigte
Mit der Metapher vom vollen Rettungsboot wollte der Bundesrat 1942 weitere jüdische Flüchtlinge an den Grenzen abweisen. Walter Lüthi, ein mutiger Freund von Dietrich Bonhoeffer, widersetzte sich dem Ansinnen öffentlich und frontal.
Das Thema des Treffens lautete damals «Widerstehet!» Die Idee der Organisatoren war ursprünglich, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus für junge Christen in der Schweiz zu thematisieren. Doch inzwischen war die Flüchtlingspolitik in den Fokus der Schweizer Öffentlichkeit gerückt.
Einzige Überlebenschance
Seit Kriegsbeginn hatte die Schweiz eine sehr restriktive Flüchtlingspolitik verfolgt, die allerdings nicht in allen Kantonen von der Polizei konsequent umgesetzt wurde. Ein interner Bericht des Justiz- und Polizeidepartements von Ende Juli 1942 zeigt, dass Behörden und Landesregierung von den Gräueltaten der Nazis und insbesondere von den Deportationen wussten. Für viele Verzweifelte war die Flucht in die Schweiz die einzige Überlebenschance. Im Sommer 1942 versuchten wieder vermehrt Flüchtlinge in die Schweiz zu gelangen. Daher forderte der Chefbeamte für das Flüchtlingswesen, Heinrich Rothmund, die Kantone am 13. August 1942 in einem Kreisschreiben auf, die Rückweisung strikt anzuwenden – und erwähnte dabei explizit jüdische Flüchtlinge. Damit war die Grenze für Flüchtlinge faktisch geschlossen.
Ein Aufschrei ging durch die Öffentlichkeit. Eine Vielfalt von Protesten in allen möglichen Formen war die Folge. Auch viele Jugendgruppen, die der «Jungen Kirche» angehörten, teilten die Empörung und forderten eine Lockerung der Flüchtlingspolitik. Die Basler National-Zeitung vom 22. August 1942 brachte auf den Punkt, was viele dachten: «Flüchtlinge an die Grenze zurückzustellen und sie ihren Verfolgern auszuliefern ist aber weder schweizerisch noch christlich, weil es nicht menschlich ist.»
Widerstehet – dem Bundesrat!
In dieser aufgeheizten Stimmung fand das Treffen der rund 6'000 jungen Leute im Zürcher Hallenstadion statt. Am Nachmittag hielt der rechtsbürgerlich-nationalkonservative Bundesrat Eduard von Steiger, seinen Vortrag zum Thema «Widerstehet!» unter ganz anderen Voraussetzungen, als er ihn ursprünglich zugesagt hatte. Jetzt wurde von der Öffentlichkeit und auch von den Veranstaltern des Treffens ein Statement zur aktuellen Flüchtlingsproblematik erwartet. Er kam aber erst ganz am Schluss darauf zu sprechen: «Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten versucht.»
Protest gegen die Rettungsboot-Metapher
Diese fatale Rettungsboot-Metapher hat sich in ihrer verkürzten und abgewandelten Form «Das Boot ist voll» ins öffentliche Bewusstsein der Schweiz eingegraben. Sie wurde von vielen heftig kritisiert, u.a. drei Wochen später in der Nationalratsdebatte zur Flüchtlingsthematik vom liberalen Basler Nationalrat Albert Oeri mit deutlichen Worten: «Unser Rettungsboot ist noch nicht überfüllt, nicht einmal gefüllt, und solange es nicht gefüllt ist, nehmen wir noch auf, was Platz hat, sonst versündigen wir uns.»
Bereits am Morgen des 30. August 1942 hatte im Hallenstadion der Basler Pfarrer Walter Lüthi seine Predigt unter dem Titel «Widerstehet!» zu Römer 8, Verse 31-39 gehalten und dabei die Flüchtlingspolitik des Bundesrats mit prophetisch anmutenden Worten frontal angegriffen und öffentlich kritisiert:
Brot für Hunde, aber nicht für Flüchtlinge
«Liebe Gemeinde! Es gibt jetzt tatsächlich etwas, das uns scheidet von der Liebe Gottes, und das ist unser schlechtes Gewissen. … Wir haben, nicht erst in diesen letzten Wochen, flüchtigen Fremdlingen, die bei uns Schutz suchten, den Eintritt in unser Land verweigert.» Lüthi nannte namentlich die drei Bundesräte von Steiger, Etter, Pilez-Golaz – nahm sogar Bezug auf den gesamten Bundesrat und fuhr fort: «Aber auch, wenn wir die uns bekannten und unbekannten Gründe und Hintergründe ernstlich bedenken und sorgfältig abwägen, belastet uns als Christen dieser Beschluss, und zwar in dreifacher Weise. Er ist erstens lieblos. Allein in der Stadt Basel werden laut amtlicher Statistik über 3'000 immer noch wohlgenährte Hunde gefüttert. Ich mag ihnen ihr Essen gönnen. Aber solange wir in der Schweiz noch bereit sind, unser Brot und unsere Suppe und unsere Fleischration mit vielleicht 100'000 Hunden zu teilen und haben gleichzeitig Sorge, einige zehntausend, oder auch hunderttausend Flüchtlinge würden für uns nicht mehr tragbar sein, ist das eine Einstellung von hochgradiger Lieblosigkeit.» Lüthi warf der Flüchtlingspolitik der offiziellen Schweiz vor, sie sei lieblos, heuchlerisch und undankbar. Heuchlerisch wegen der humanitären Tradition der Schweiz und undankbar, weil die Schweiz vom Krieg verschont geblieben sei.
Wir müssen umkehren, ...
Lüthi wusste, was sich an den Schweizer Grenzen abspielte. Mit seiner Familie wohnte er ja in nächster Nähe. Oft hatten sie in den Kriegsjahren Menschen auf der Flucht und Durchreise als Gäste am Tisch und Grenzwächter aus der Kirchgemeinde suchten Lüthi seelsorgerlich auf, weil sie an der unmenschlichen Aufgabe, Flüchtlinge in den sicheren Tod hinein zurückzuweisen, litten und zerbrachen. Als er für die Predigt in Zürich angefragt wurde, sah er keinen anderen Weg, als öffentlich für die Flüchtlinge einzutreten und zur Umkehr zu rufen.
... weil wir Christus an der Grenze zurückweisen
Er hatte den Mut und die Kühnheit, nicht nur das Unrecht klar und deutlich zu benennen, sondern auch die Bedeutung des Kreuzes Christi in den Mittelpunkt zu stellen: «Ich kann, ja, ich will euch in eurer Gewissensnot keine andere Zuflucht zeigen als diesen Ort, wo unsere menschliche Sünde völlig offenbar wird – und zugleich vergeben. Freilich zuerst völlig offenbar. Hier erkennen wir nun erst recht die ganze Tiefe des entstandenen Schadens. In den Hilfesuchenden, denen wir den Zutritt verweigern, weisen wir Christus von unseren Grenzen zurück, so wahr er sich mit «diesen seinen geringsten Brüdern» solidarisch erklärt hat. Sie haben ihn auf ihrer Seite. Weil wir uns an Christus versündigt haben, darum ist nur er imstande, uns zu vergeben.»
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Autor: Christoph Ramstein / Fritz Imhof
Quelle: Livenet
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