Chance für Christen im Westen
Das ist keine Naturkatastrophe
Sie brechen auf und kommen. Sie riskieren das Letzte, was sie haben, sogar ihr Leben. Nichts hält sie auf. Keiner weiss, wann der Flüchtlingsstrom verebbt. Europa ringt um eine gemeinsame Lösung. Wie begegnen Christen dieser Herausforderung? Gedanken von idea-Chefredaktor Rolf Höneisen.
Seit Beginn dieses Jahres haben sich mehr als 500'000 Menschen auf den Weg nach Europa gemacht. Auf der Balkanroute ist die Situation ausser Kontrolle. Tausende überqueren jeden Tag die griechisch-mazedonische Grenze. Die Situation in Ungarn, Griechenland und Mazedonien ist angespannt. Es kommt zu gewaltsamen Zusammenstössen. Auf dem Weg von Griechenland ins Herz Europas greifen die Schengen/Dublin-Regeln nicht mehr. Die Nerven liegen blank.
Am letzten Mittwoch – mitten in der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg – wurde im Nationalrat über Asylpolitik debattiert. Bis in die Nacht hinein stritten die Politiker über einzelne Paragrafen und entschieden, wie die Schweiz in Zukunft mit Asylbewerbern umgehen will. Die EU ringt um Solidarität unter ihren Mitgliedern. «Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand», klagte Kommissionspräsident Juncker. «Es fehlt an Europa, und es fehlt an Union.» Gemäss einem Verteilschlüssel sollen 120'000 über Italien, Griechenland und Ungarn in die EU eingereiste Flüchtlinge verteilt werden. Die Schweiz, als Unterzeichnerin des Dublin-Abkommens, ist mitbeteiligt. In Deutschland werden in diesem Jahr mindestens 800'000 Migranten erwartet. Von der Migrationsbewegung durch die südöstlichen Staaten Europas ist die Schweiz wenig betroffen. Im August wurden 3'899 Asylgesuche gestellt, im Vormonat waren es 3'896.
In Syrien wütet der Bürgerkrieg seit vier Jahren. Man stelle sich vor: In Syriens Nachbarländern leben mehr als vier Millionen Flüchtlinge in Auffanglagern unter problematischen Bedingungen – in Jordanien 750'000, im Libanon 1,5 Millionen und zwei Millionen in der Türkei. Diese Länder sind damit überfordert. Den UNO-Hilfsprogrammen geht das Geld aus. Dass die Menschen jetzt aufbrechen und die Lager verlassen, ist nachvollziehbar: Der Winter naht. Die Hoffnung auf eine Rückkehr schwindet, während sich die Situation in den Lagern verschlechtert.
SVP-Nationalrat «wütend» über menschenunwürdige Umstände
«Europa behandelt die Flüchtlingswelle, als wäre sie eine Art Naturkatastrophe, deren Ursachen nicht beeinflussbar sind», schreibt Andreas Rüesch in der NZZ. In Wirklichkeit könne es aber nicht erstaunen, dass von den 12 Millionen vertriebenen Syrern ein immer grösserer Teil genug vom Warten in provisorischen Behausungen hat und von einer Zukunft im sicheren Europa träumt. Letzten Dezember hat Nationalrat Adrian Amstutz (SVP) ein Flüchtlingslager im Libanon besucht. Er ist wütend. Die Vertriebenen lebten dort in menschenunwürdigen Umständen. Wir seien ein Teil des Problems. Europa habe ein Anreizsystem geschaffen. Flüchtlinge würden in die Arme von Schleppern getrieben. Man solle die Ressourcen, die für das Asylwesen verbraucht werden, besser an Ort und Stelle einsetzen.
Zaun erhöhen – oder Mittagstisch verlängern?
«Ich habe ein Lager in Diyarbakir in der Südosttürkei besucht» erzählt Tom Albinson, Präsident der International Association for Refugees mit Sitz in Illinois. Albinson ist gleichzeitig Beauftragter für Flüchtlinge, Vertriebene und Staatenlose der Weltweiten Evangelischen Allianz. Im Flüchtlingslager sprach er mit Jesiden, die vor den Schlächtern des IS geflüchtet waren. Sie erzählten ihm, dass frühestens 2022 ein Asylverfahren für sie eröffnet werde. Wer will sieben Jahre in einem Zeltlager auf irgendetwas warten? Der Weg zurück ist versperrt. Irgendwann brechen sie auf in Richtung Westen. Seit 30 Jahren ist Tom Albinson unter Flüchtlingen tätig. Er gehört zu den Gründern von Refugee Highway Partnership. Dieses wachsende internationale Netzwerk verbindet christliche Dienste, die sich um Flüchtlinge und Vertriebene kümmern. Tom ist einer von denen, die eher den Mittagstisch verlängern als den Zaun erhöhen.
Weltweit über 50 Millionen Flüchtlinge
Bis 2011 sprach die UNO von 32 Millionen Menschen, die weltweit auf der Suche nach einer neuen Heimat sind. Diese Zahl schnellte innert vier Jahren hoch auf über 50 Millionen. Gründe sind die vermehrten Kriege, der Zusammenbruch ganzer Staaten, Verfolgung und Armut. Es gibt immer mehr Flüchtlinge, aber kaum nachhaltige Konzepte, die ihnen helfen. Heute leben 9 von 10 Flüchtlingen in einem Entwicklungsland. Diese schwachen Staaten können nicht alle aufnehmen, die kommen. Wie lange kann der Kleinstaat Libanon über eine Million Syrer versorgen, ohne zu kollabieren? Die kriegerischen Auseinandersetzungen dauern immer länger. Eine Rückkehr ist für die Vertriebenen – wenn überhaupt – erst nach vielen Jahren möglich. 2014 reisten von 19 Millionen Flüchtlingen 126'000 zurück in ihre Heimat. Das ist die tiefste Rückkehrerzahl in den letzten 30 Jahren. Die Rückkehr war nicht möglich. Eine Lösung ist das Umsiedeln in ein anderes Land. Aber es sind nur wenige, die diesen Weg gehen können – 2014 waren es 106'000, die in Länder mit entsprechenden Flüchtlingskontingenten einreisen durften.
Auch Christen sind auf der Flucht
Es sind nicht alles Muslime, die in den Westen fliehen. Es sind auch Christen. Sie spüren die Ablehnung, fühlen sich von der weltweiten Gemeinde vergessen. Einen grossen Teil seiner Zeit setzt Tom Albinson dafür ein, Christen zu mobilisieren. Sie sollen sich aufmachen und die vertriebenen Glaubensgeschwister besuchen. So wie Jonathan den von Saul in die Wüste geschickten David aufsuchte, um ihn zu stärken. «Wir können viele Situationen nicht ändern, aber besuchen, ermutigen, beten – das können wir auf jeden Fall tun», betont er.
«Angst essen Seele auf», dichtete Fassbinder. Viele Reaktionen auf den Flüchtlingsstrom wollen die Abschottung, das Schliessen der Grenzen. Der Verlust von Sicherheit, Ordnung und eine zunehmende Islamisierung machen Angst. Wie verhalten sich Christen in dieser Herausforderung? Tom Albinson mahnt: «Kinder Gottes sollen nicht aus Angst handeln. Gott sorgt für uns.» Überzeugte Christen sollten die Gelegenheit wahrnehmen, der Welt zu zeigen, was Gottvertrauen heisst, wie Gott Menschen liebt und wo es eine Heimat für Heimatlose gibt. «Jetzt werde unser Vertrauen geprüft», sagt Albinson. Für viele nach Europa kommende Muslime werde es die erste Begegnung mit Christen und dem Evangelium sein. Das sei eine Gelegenheit, keine Bedrohung. «Nicht wir sind bedroht, die Bedrohten sind die Migranten», sagt Tom.
Kritiker einer weit gefassten Einwanderungspolitik verweisen auf die mangelnde Integration von Menschen aus fremden Kulturen. Alex Reichmuth in der Weltwoche: «Den Migranten fehlt die elementarste Bildung, um den Sprung in die Arbeitswelt zu schaffen. Sie kommen aus Kulturen, die so verschieden von der unseren sind, dass sie sich auch gesellschaftlich nie integrieren. So enden viele als Sozialrentner, gefangen in einem Leben ohne Sinn.»
Mehr Streitkultur im Dialog gefordert
Die Flüchtlingsfrage widersetzt sich einfachen Lösungen, und es geht um mehr als Grenzkontrollen: Um Befriedung der Konflikte, um nachhaltige Entwicklungspolitik, um fragliche Waffenexporte, um faire Handelsabkommen. Im Bereich der Einwanderung beschäftigen sich Politiker mit komplizierten Fragen. Ihre Arbeit erfordern Weisheit und Augenmass. Weder grenzenloses Mitleid noch radikales Mauern führen weiter.
Der Politikwissenschaftler und Historiker Johannes Kandel hat durchaus Recht, wenn er im christlich-muslimischen Dialog mehr Streitkultur statt Harmonisierung fordert. Kandel: «Es wird nicht deutlich gesagt, dass es menschenrechtlich inakzeptable Doktrinen und religiöse Praktiken im Islam gibt. Und häufig wird der Zusammenhang von Islam und Islamismus geleugnet.» Politiker und Kirchenvertreter sollten wegkommen von den «Verharmlosungen und Beschönigungen der dunklen Seiten des Islam». Man solle im Dialog nicht so tun, als sprächen Christen und Muslime von demselben Gott. Die ganz verschiedenen Konzepte von Demokratie, Menschenrechten und Frieden (im Islam dann erreicht, wenn alle Muslime sind) müssten offen angesprochen werden.
Das unbequeme Liebesgebot
Die christliche Gemeinde hat einen anderen Auftrag. Dieser heisst, den Fremden als den Nächsten zu lieben. Tom Albinson liest aus der Bibel, im Buch 3. Mose, Kapitel 19, ab Vers 33: «Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst …». Jesus hat diese Haltung bekräftigt. Gott zu lieben, ist das höchste Gebot. Diesem gleichgestellt, ist, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst (Die Bibel, Buch Matthäus, Kapitel 22, Vers 37; vgl. Buch 3. Mose, Kapitel 19, Vers 18b). Tom fragt: «Welche Menschen sollen wir nun nicht lieben? Die Illegalen? Oder die Wirtschaftsflüchtlinge?» Das christliche Liebesgebot wird im Kontext der Flüchtlingskrise unbequem.
Wäre das Abschotten, das Schliessen der Grenzen die bessere Lösung? «Der Flüchtlingsstrom lässt sich nicht austrocknen», ist Tom Albinson überzeugt. Das stärke die kriminellen Netzwerke, die Schlepper. In den sozialen Netzwerken machen angsterfüllte Reaktionen die Runde. Der Zustrom von Muslimen sei bewusst provoziert und gemischt mit potentiellen Terroristen. Via Asylrecht sei der Islam drauf und dran, Europa zu erobern. Tom Albinson weist dies zurück. «Die muslimischen Flüchtlinge laufen weg vor ihren radikalisierten Glaubensbrüdern», sagt er. Die Radikalisierung geschehe in den Moscheen hier, unter denjenigen, die sich nicht willkommen fühlten, keine Arbeit hätten, frustriert seien. «Sie sind es, die nach Syrien reisen und sich für den IS in die Luft sprengen» Für Albinson ist dies ein Signal, dass die Integrationsbemühungen weiter verstärkt werden müssen. «Christen sollten keine Angst haben. Unser Auftrag ist es, die Menschen zu lieben – mit allem damit verbundenen Risiko»
Über Jahre zu wenig getan
Der WEA-Flüchtlingsbeauftragte ist der Meinung, die westlichen Staaten hätten es bisher versäumt, aktiv zu werden. «Ein Eritreer steht vor der Wahl, nach Kenia in ein Lager zu laufen oder den Weg nach Europa zu suchen. Weil er weiss, dass er für viele Jahre im Lager festsitzen wird, ist seine Entscheidung rasch gefällt. 17 Jahre ist die durchschnittliche Verweildauer in einem Flüchtlingslager, wo man nichts lernt, ausser abhängig zu sein», sagt Tom und meint: «Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir warten, bis die Menschen zu uns marschieren oder wir werden proaktiv und holen sie zu uns. Anstatt 800'000 Asylbewerber, die ungeordnet kommen, sollten wir 800'000 Flüchtlinge kontrolliert aus diesen Lagern zu uns holen.» Christen fragen sich, was das alles zu bedeuten hat – jetzt, wo Syrer, Iraker, Iraner und Afghanen zu uns kommen, nachdem es über Jahrzehnte nur unter schwierigsten Bedingungen möglich war, zu ihnen zu gehen. Ist dies eine von Gott geschickte Aufforderung an die Christen, um Barmherzigkeit zu zeigen und das Evangelium zu bezeugen? Für einen wie Tom Albinson ist das schon längst keine Frage mehr.
Die riesengrosse Chance der Kirche
Die ganze Bibel – von Adam bis zu Johannes auf Patmos – berichtet uns von vertriebenen Menschen. Wenn David formulierte, Gott sei seine Zuflucht, war das alles andere als abstrakt. Er war jahrelang ein Flüchtling. In dieser Zeit schrieb er viele der Psalmen, manche davon in einer Höhle. Gott war seine Zuflucht und beschützte ihn. Die gegenwärtig zelebrierte «Willkommenskultur» dürfte schon bald in der Realität verblassen. Auch bei Christen? Der lutherische Theologe und Journalist Uwe Siemon-Netto schrieb in einem idea-Kommentar: «Halten wir gleich fest, dass Gott der Herr der Geschichte ist. Somit fällt auch die neue Völkerwanderung – wie ihre Vorgängerin vor anderthalb Jahrtausenden – in seinen Zuständigkeitsbereich. Gott ist der Herr der Geschichte. Ist sich die Kirche dessen überhaupt noch bewusst? Erfasst die Kirche die riesengrosse Chance, die ihr Gott mit diesem gewaltigen Zustrom von Menschen gibt, die oft Muslime sind, sich aber vor der Gewalt islamistischer Massenmörder und Vergewaltiger ins Abendland retten? Erkennt die Kirche ihre Pflicht, diese Flüchtlinge – natürlich unaufdringlich – auf unseren ganz anderen Gott hinzuweisen, der niemanden dazu aufruft, Köpfe abzuschneiden, sondern sich für uns ans Kreuz nageln lässt?»
«Wir leben in einer spannungsvollen Zeit. Unsere Werte, unser Glaube, alles wird geprüft», sagt Tom Albinson. Christen sollten vermehrt beten. Für die Ursachen der Gewaltkonflikte. Für die Vertriebenen. Für die Regierungen. Und sie sollen die Liebe Gottes mitten in die Flüchtlingskrise hineintragen. «Die Gesellschaft wird sich ändern. Leicht wird es nicht» Albinson blickt in die Ferne. «Gott hat uns seine Liebe gezeigt, indem er seinen Sohn als Opfer für uns gab. Liebe zeigt sich durch Opfer. Sind wir bereit, auch diese Menschen zu lieben?»
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Autor: Rolf Höneisen
Quelle: idea Schweiz