Freundschaftsevangelisation

Dein Nachbar liest dich

Das Konzept scheint einleuchtend (wie alle Konzepte): Den Nachbarn zum Freund machen, da sein für ihn, aushelfen (nicht nur mit der berühmten Tasse Zucker) und wenn wir sein Vertrauen gewonnen haben, von Jesus erzählen.

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Wo man einander ins Vorgärtli sieht, werden Christen genau gelesen.
Unaufdringlich natürlich, ein wenig Zeugnis hier beim Kaffeeklatsch, ein bisschen gezielte Werbung da für einen Alphalive-Kurs. «Freundschaftsevangelisation» nennt sich das und macht Nachbarn zu VIP‘s. Das Problem ist nur, dass Gott uns die Sache oft unnötig erschwert – uns neben die falschen Nachbarn platziert, ihnen peinliche Einblicke in unser Leben gewährt, unser Zeugnis an ihrem höflichen Desinteresse abprallen lässt ... Und wir, die wir den Missionsauftrag Jesu im Hinterkopf haben und ohnehin ein schlechtes Gewissen kriegen, wenn uns wieder mal jemand daran erinnert, wir seufzen unter der Verantwortung, die wir als Freundschaftsevangelisten tragen.

Ein Gabenseminar schafft dann vielleicht Abhilfe, indem es uns schwarz auf weiss bestätigt, dass wir die Gabe der Evangelisation gar nicht haben. Zuvor aber haben wir an allem gezweifelt, nur nicht am Konzept der Freundschaftsevangelisation. Das lässt sich nachholen: Wie ehrlich kann eine freundschaftliche Beziehung sein, wenn sie von Anfang an unter dem heimlichen Vorsatz steht, das Gegenüber irgendwann zum Glauben an Jesus zu bringen? Wie echt sind wir als Menschen, wenn wir nicht mit offenen Karten spielen, sondern möglichst vorbildlich wirken wollen? Die echten Freundschaften entstehen absichtslos und ungeplant. Sie lassen unverstellte Begegnungen zu, geben Einblick in persönliche Abgründe – und vor allem leben sie davon, dass ich den Anderen nehme, wie er ist, und ihn nicht dorthin bringen will, wo ich bin. 

Freundschaftsevangelisation kann Nachbarschaften belasten und Freundschaften verhindern. Was aber ist mit dem Missionsbefehl aus Matthäus 28,18-20? Sollen wir ihn einfach ignorieren? Ich denke eher, dass die letzten Worte des Auferstandenen anders verstanden werden wollen. Wenn ein Häufchen ungebildeter Menschen am Schluss einer dreijährigen Wanderzeit den Auftrag erhält, «alle Völker zu Jüngern» zu machen, klingt das zwar wie ein Auftrag, zugegeben. Dieser ist jedoch derart grenzenlos, dass er entweder unmöglich zu erfüllen ist oder sich dahinter eine gewaltige Verheissung verbirgt.

Unbewusste Reaktionen bezeugen, was in uns ist

Das ganze Neue Testament geht davon aus, dass Glaube von Gott geweckt, gestiftet und am Leben erhalten wird. Wenn wir diese Grundlinie bis zu unseren ungläubigen Nachbarn ausziehen, heisst das nichts anderes, als dass sich Gott selbst den Weg zu ihren Herzen bahnen muss. Je mehr wir schlicht und einfach unseren Glauben leben, desto mehr wird er es durch uns tun – in der Regel nicht einmal dort, wo wir es merken. Denn menschliche Bemühungen, den Glauben überzeugend zu leben, sind leicht zu durchschauen. Unbewusste Reaktionen hingegen bezeugen, was in uns ist, und wenn es Jesus ist, dann wird er aus ihnen lesbar. Als Christen werden wir in der heutigen Gesellschaft immer weniger verstanden. Zu unglaublich erscheint die Botschaft, dass sich Gott in einem gekreuzigten Zimmermann offenbart haben soll.

Aber wir werden gelesen – unser Verhalten, unsere Prioritäten, unsere Reaktionen. Und dort, wo wir uns einmal klar zu Christus bekannt haben, werden andere unser Leben auf ihn hin zu deuten beginnen. Das wird auch spannend für uns: Prägt Jesus uns so, dass er durch uns hindurch scheint, dass Glaube in unserem Leben lesbar wird – ohne dass wir dies gross beeinflussen? Wir müssen es darauf ankommen lassen. Denn alles, was wir von unserer Seite dazu tun können, ist das Bekenntnis zu ihm. – Der Rest ist leben – und lesen – lassen.

Alex Kurz ist Pfarrer der reformierten Landeskirche, Schriftsteller und Mitglied der Mundartrockband «Schweizer Powern»

Datum: 16.10.2012
Autor: Alex Kurz
Quelle: Wort und Wärch

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