«Todesursache Nummer eins»
Einsamkeit – die unerkannte Krankheit
Manfred Spitzer ist einer der bekanntesten deutschen Psychiater. Bekannt wurde er durch starke und polarisierende Thesen zur Digitalisierung der Gesellschaft – Stichwort «Digitale Demenz». Sein neues Thema ist Einsamkeit. Das unterschätzte Gesellschaftsphänomen ist für ihn die Todesursache Nummer eins.
In der ZDF-Talkshow «Markus Lanz» stellte Manfred Spitzer (59) am 28. Februar einige Thesen und Fakten zum Thema Einsamkeit vor.
«Woran man als Einsamer stirbt, ist eher zufällig»
Zunächst einmal unterstrich der Psychiater, dass Einsamkeit kein nebensächliches Problem ist. Denn sie ist kein romantisches Zu-sich-selbst-Finden. Einsamkeit ist das subjektive und unangenehme Gefühl, alleine zu sein. Dies verursacht Stress. Und dieser dauerhafte Stress führt zu einem angeschlagenen Immunsystem, Bluthochdruck, Diabetes, Schlaganfällen usw. Lapidar meinte der Psychiater: «Woran man dann als Einsamer stirbt, ist eher zufällig.»
Doch Einsamkeit als Ursache Nummer eins bei Todesfällen lässt sich seiner Meinung nach durch viele Studien belegen. Zudem wirkt Einsamkeit ansteckend und breitet sich geradezu epidemisch aus – nicht nur Singles und Alleinstehende sind davon betroffen, sondern auch Verheiratete! Die britische Regierung richtete deshalb sogar ein Ministerium zur Bekämpfung von Einsamkeit ein, weil angeblich über neun Millionen Briten signifikant darunter leiden.
Einsamkeit tut weh
Hirnphysiologisch wird Einsamkeit ähnlich wie Schmerz wahrgenommen. Es sind die gleichen Areale im Gehirn, die beide Empfindungen verarbeiten. Wer sich wehtut, dem sagt das Gehirn: Vorsicht! Stopp! Hier läuft etwas verkehrt. Dasselbe Signal erreicht uns im Fall von Einsamkeit. Kein Wunder: Als soziale Wesen sind wir auf Gemeinschaft angelegt. Und früher war man laut Spitzer «nach einem Rauswurf aus der Gruppe so gut wie tot». Deshalb wird Einsamkeit im wahrsten Sinne als «schmerzlich» empfunden. Als grösste betroffene Gruppe der leidenden Einsamen identifizierte Spitzer überraschenderweise junge Mädchen. Gerade weil sie sozialer ausgerichtet wären als Männer, litten sie stärker unter Phänomenen wie Mobbing oder «Zickenkrieg».Gute Beziehungen sind heilsam
In seiner Beschreibung von Einsamkeit wies Spitzer wiederholt darauf hin, dass man auch in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Gruppe einsam sein kann. Denn die Qualität der Beziehungen entscheidet. Die meisten Menschen haben nur wenige Freunde, bei denen sie nachts um drei klingeln und unterkommen könnten. Doch diese wenigen Freunde reichen völlig aus, um ein deutlich stressfreieres, glücklicheres und längeres Leben zu führen.
Neben weiteren geschlechterspezifischen Unterschieden wies Spitzer vor allem darauf hin, dass fehlende Beziehungen Männer umbringen. Unverheiratete Männer sterben im statistischen Mittel sechs Jahre früher als verheiratete. Bei Frauen scheint der Zusammenhang nicht so eindeutig zu sein, da sie zwar auch eine Partnerschaft wollen, aber gleichzeitig stärker daran leiden (können). Unter dem Strich bleibt jedoch stehen, dass gute, echte Beziehungen heilsam sind und geradezu lebensverlängernd wirken.
Weitere Ideen
Das Ministerium in England sowie ein geplanter Regierungsbeauftragter zur Einsamkeit in Deutschland zeigen: Ideen sind nötig, um der wachsenden gesellschaftlichen Vereinsamung zu begegnen. Spitzer riss kurz an, was aus seiner Sicht mögliche Ansätze sein können: Mehrgenerationenhäuser statt Kindergärten und Seniorenheimen; Städte, die für Menschen und nicht für Autos geplant werden … Hier ist natürlich viel Raum für politische Planung, aber genauso für persönliches oder kirchliches Engagement.
Spitzer bleibt spitz
Ausführlich behandelt Manfred Spitzer das Thema in seinem Buch «Einsamkeit – die unerkannte Krankheit» (Droemer Knaur, 320 Seiten, ISBN 978-3-426-27676-1, 19,99 €). Wie auch in der Talkshow deutlich wird, stellt Spitzer seine Thesen sehr pointiert dar. Das bleibt nicht ohne Widerspruch. Manches ist sicher überzeichnet, doch die enge Verbindung von Psyche und Körper beim Thema Einsamkeit und ihre teilweise tödlichen Auswirkungen sind in jedem Fall eine Auseinandersetzung mit Spitzers Ideen wert.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / ZDF