Interview mit Peter Marti
Die Chancen des Alterns wahrnehmen
Der pensionierte Theologe, Seelsorger und Erwachsenenbildner Peter Marti hat seinen Doktortitel durch eine Studie über die Situation von alternden Menschen erhalten. Im Zentrum der Dissertation steht das Wohlbefinden und der Lebenssinn der älteren Generation.
Dr. Peter Marti: Mein Fokus war auf Menschen zwischen 50 und 80 Jahren gerichtet, die nicht speziell von Krankheit betroffen sind, sondern normal älter werden und in diesem Prozess vor neuen Herausforderungen stehen, hauptsächlich in der Schweiz. Entweder wehren wir uns gegen Veränderungen – am liebsten sollte alles bleiben wie es ist, speziell wenn einem die Veränderungen als Verlust oder Einschränkung vorkommen –, oder wir erleben sie als eine vorübergehende Chance für Neues, entsprechend den aktuellen Möglichkeiten und im Blick auf unsere Endlichkeit. Religiös und nichtreligiös kann nicht so klar unterschieden werden.
Welche Unterschiede sind Ihnen besonders aufgefallen?
In den qualitativen Interviews wählte ich zehn verschiedene religiöse oder spirituelle Ausrichtungen und verglich die Aussagen miteinander. Da war der Atheist oder die Agnostikerin, die mit dem Tod das endgültige Ende allen Seins sahen. Dann waren die religiös offenen Menschen mit einem unpersönlichen Gottesbild. Sie sehen Gott oft als eine Kraft, die in der Not hilft, aber die Lebenspraxis nicht wesentlich beeinflusst. Solche Menschen sind meist kirchlich orientiert und sozial tätig. Intensiver religiös leben Menschen mit einem persönlichen Gottesbild. Solche Christinnen und Christen leben aus einer bewussten Liebesbeziehung zu Gott dem Vater, dem Sohn Jesus Christus und dem Heiligen Geist heraus. Gott hat für sie einen Plan bereit, der sie nach dem Tod in die ewige Gemeinschaft mit ihm führt.
Welche besonderen Ressourcen haben gläubige Menschen im Alter andern voraus?
Der Psychiater Viktor Frankl hat in einem langen Gespräch mit dem jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide festgestellt, dass der Mensch, um in seinem Leben Sinn zu finden, eine Dimension braucht, die grösser als er und ausserhalb von ihm ist. Frankl nennt dies das Absolute, Lapide nennt es Gott. Der Mensch muss sich also nicht bemühen, seinem Leben Sinn zu geben, sondern er ist gegeben. Dies bringt auch Verantwortung mit sich. Wer nur auf sich selber bezogen ist, nur sich selber gegenüber verantwortlich leben will, ist wie «geistlich amputiert», kommen Lapide und Frankl zum Schluss. Ein solcher Mensch verzichtet freiwillig auf Ressourcen, die ihm gegeben wären, wenn er sie wollte; denn jeder Mensch hat einen Sinn für die Transzendenz.
Welche Rolle spielt der Glaubensstil bzw. die Glaubenstradition dieser Menschen?
Glaubenstradition und -Stil sind bezeichnend. Viele dem christlichen Glauben ablehnende Menschen haben in ihrer Vergangenheit schlechte Erfahrungen in ihrer Familie oder ihrem frühen Umfeld gemacht. Das brachte sie dazu, das ganze Glaubensthema für sie abzuschliessen und andere Wege zu suchen. Ein positiver Glaubensstil ist der Glaube aus Liebe zu Gott, der über lange Jahre gepflegt und geübt wurde. Dieser Glaube ist zweckfrei, will eigentlich nichts anderes als die Nähe Gottes suchen. Dazwischen ist jede Variante möglich.
Wie kann die Gemeinde die Ressourcen der älteren Menschen besser nutzen?
Es wäre wichtig, dass die Generationen miteinander im Gespräch bleiben und dass es, wenn möglich, gemeinsame Gefässe zum Austausch mit der jüngeren Generation gäbe. Eher geschieht es, dass sich das aktive «Dritte Alter» für das «Vierte» einsetzt, seelsorgerisch und begleitend, und so gleichzeitig Übungsmöglichkeiten für die eigene Zukunft wahrnehmen kann. In der Gemeinde können die Älteren durch Fachveranstaltungen von einem Mediziner oder einer Psychologin auf die Chancen des Alterns aufmerksam gemacht werden. Zum Freiwilligendienst soll motiviert werden. Zeit und Gaben im Rentenalter einsetzen bedeutet Lebensqualität und steigert sowohl den Selbstwert wie auch das Wohlbefinden. Leider lassen sich nicht alle in diese Richtung rufen. Ständige Motivation ist angesagt.
Könnte sie ihnen auch mehr zurückgeben?
Auf jeden Fall. Wenn man sich anderer Menschen annimmt, seien sie jünger oder älter, profitiert letztlich der am meisten, der es tut. Verbunden mit dem Glauben ist dies die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe, die sich positiv auf den Empfänger wie auf den Geber auswirkt. Das Ganze ist im höchsten Mass sinnstiftend. In der Gemeinde werden die Dienste der Älteren positiv wahrgenommen. Der Lohn dafür sind gute Beziehungen zu den andern und deren Wertschätzung. Das Gemeinschaftsgefühl wächst.
Es wird gesagt, dass sich fromme Menschen mit dem Sterben oft schwerer tun als Nichtreligiöse. Können fromme Menschen angesichts des Todes wirklich besser loslassen?
Da besteht kein Automatismus. Auch fromme Menschen können ihre Mühe oder sogar Angst vor dem Tod haben, obschon sie sich ein Leben lang als Christen bezeichnet haben. Man kann Namenschrist, Gewohnheitschrist oder existentiell mit Gott verbundener Christ sein. Ein biblisches Bild dafür ist der Weinstock und die Rebe. Eine solche Verbundenheit spiegelt sich auch auf der letzten Strecke des irdischen Lebens.
Dr. Peter Marti (70), verh. mit Bertie, zwei erwachsene Kinder, wurde 2012 an der University of Southafrica (UNISA) mit einer Dissertation zum Lebenssinn älterer Menschen zum Doktor der Theologie promoviert. Zuvor hatte er als erster theologischer Mitarbeiter des Bundes ETG das Ferienhaus Credo in Wilderswil geleitet. Vor seinem theologischen Examen an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (STH), wo er parallel zu seiner Leitertätigkeit am Credo studierte, hatte der gelernte Automechaniker theologische Studien in Chicago und am Institut Emmaus in St. Légier absolviert.
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet