Integration

Muslime, reformierte Kirchen und die Gesellschaft

Woher stammt der Graben zwischen den protestantischen Kirchenvertretern, die gegen ein Minarettverbot auftraten, und dem Kirchenvolk? Hat das Verwischen der Unterschiede zwischen Christentum und Islam, dem manche Reformierte Vorschub leisteten, dazu beigetragen? Was ist für die Integrationsdebatte daraus zu lernen?

Der Graben zwischen den Sprechern der reformierten Kirchen und dem Kirchenvolk, der sich am 29. November zeigte, gibt weiterhin zu reden. Wer Antworten auf die offenen Fragen sucht, kann die Stellungnahmen von Pfr. Thomas Wipf studieren. Wipf hat als Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK 2006 den Schweizerischen Rat der Religionen initiiert, dem er seither vorsteht. Im Juni 2007 und im November 2009 hat er die Abgeordnetenversammlungen des SEK dazu benutzt, um ausführlich zum Umgang mit dem Islam und seinen hiesigen Vertretern Stellung zu nehmen (hier werden die im Internet publizierten Manuskripte zitiert).

Stellungnahme Juni 2007
Stellungnahme November 2009

«Erwartungen» an die Muslime

Es kann Wipf nicht vorgeworfen werden, dass er die Probleme, die am 29. November zum Minarettverbot beitrugen, einfach ausgeblendet hat. Er benennt 2007 vor den Abgeordneten der SEK-Mitgliedkirchen Hauptdivergenzen: Das Verständnis von Staat und Religion und von der Gleichberechtigung von Mann und Frau sei «zum Teil sehr unterschiedlich».

Als Religionsdiplomat helvetischen Zuschnitts stellt Wipf den Muslimen auch «kritische Fragen» und formuliert «Erwartungen»: Die Verantwortlichen der Islamverbände hätten ihren Leuten mit einer «kontinuierlichen Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit» klarzumachen, dass in der Schweiz Religionsfreiheit die Option einschliesst, vom Islam zu einer anderen Religion zu wechseln. Weiter hält Wipf vor den Kirchenvertretern fest, dass auch im Bereich der Familie die Grundrechte gelten, dass die Kopftuchträgerin die Freiheit haben muss, ihr Kopftuch abzulegen. Und dass die Religionsfreiheit universal gilt, «für Muslime in der Schweiz genauso wie für Christen in islamischen Ländern».

Integration ins westliche Wertesystem?

Wipf stellt die zentrale Frage: «Was bedeutet die Integration einer Religion für unsere abendländischen, christlich-jüdischen und aufklärerischen Werte, wenn diese andere Religion eigenständige Werte- und Rechtstraditionen beinhaltet?» Dabei setzt der SEK-Ratspräsident die Aufgabe der Integration der Religion als gegeben voraus. (Im laizistischen Frankreich konzentriert sich der Staat darauf, den «Culte musulman», den kultischen Vollzug, zu regeln.)

Der Begriff Integration ist nicht eindeutig; er kann sowohl das Eingliedern in ein Bestehendes meinen als auch das Entwickeln von etwas Neuem. Die zitierte Frage darf man dahingehend interpretieren, dass in der Schweizer Gesellschaft aus den hiesigen Werten und dem, was der Islam bringt, durch Dialog und zunehmende Verständigung ein Neues entstehen soll.

Multikulti-Romantik am Ende

Wipf sagt, dass «sich nach einer gewissen Zeit der multikulturellen Romantik nun ... einige grundsätzliche Fragen stellen». Für ihn geht es darum, den Schweizer Lebensraum mit fremden Menschen zu teilen und «dem Fremden einen Platz einzuräumen: gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell». Der führende Vertreter der Schweizer Protestanten räumt ein: «Multikulturalität und Multireligiösität ist ein anspruchsvolles Gesellschaftskonzept. Es bedeutet, dass wir mit der Spannung, das Eigene zu bewahren und gleichzeitig offen zu sein für das Fremde, konstruktiv umgehen können». Dabei sind Christen und Kirchen aufgefordert zu überlegen, «welche Grundwerte und Grundhaltungen» sie «nicht aufgeben können und wollen».

Laut Wipf sind die reformierten Kirchen als Partner der islamischen Vereine und Dachverbände «bereit, weiterhin ihre Anliegen und Bedürfnisse aufzunehmen und nach Lösungen zu suchen». Umgekehrt müssten aber auch deren Vertreter im SCR dasselbe mit den Anliegen der Kirchen tun. Wipf schwebt ein «Dialog auf Augenhöhe, geprägt von Transparenz, Offenheit und Kompromissbereitschaft» vor. Dass er 2007 von diesem Ziel noch weit entfernt ist, auch wegen der jungen Verbandsstrukturen auf islamischer Seite, deutet er an - offenbar sieht er jedoch keine Alternative zum eingeschlagenen Weg; der SCR ist vor allem sein Projekt.

«Grundkonsens über die Voraussetzungen des Zusammenlebens»

In der Minarettdebatte des Herbsts 2009, vier Wochen vor der Ohrfeige des 29. November, formuliert Wipf programmatisch: «Der Dialog zwischen den Religionen in der Schweiz braucht eine neue Qualität.» Dafür sei «ein Grundkonsens der Religionen über die Voraussetzungen des Zusammenlebens»  nötig - ein Grundkonsens nicht in Glaubensfragen, denn «die Religionen sind unterschiedlich».

2007 hat der Vorsitzende des Rates der Religionen vor den SEK-Abgeordneten noch das Gemeinsame betont: «Die Religionen, insbesondere Christen, Juden und Muslime haben eine gemeinsame Grundlage. Der Glaube an Gott und die Sehnsucht nach Frieden. Das Gemeinsame ist stärker als das Trennende.» 2009 äussert er dagegen, dass die Unterschiede immer bestehen werden. Gemäss der Integrationsrhetorik, der sich Wipf verschrieben hat, gilt es aber, «die grundlegenden Differenzen zwischen den Religionen so ernst zu nehmen, dass sie nicht als Ursache von Konflikten, sondern als Impulse zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wirken können». Wie denn?

Woher kommt die Kraft zum Nein?

Kann die säkulare Schweizer Gesellschaft, wie sie von Politik und Justiz gehegt wird und sich in den Medien spiegelt, den Islam integrieren? (Die Frage, in welchem Sinn die Sprecher der Muslime und massgebende Imame diese Zielsetzung teilen, sei hier ausgeklammert.) Bringt sie dabei die Kraft auf, islamischen Positionen entschieden abzusagen? Dies muss sich in den kommenden Jahren, bei zunehmenden muslimischen Bevölkerungsanteilen, zeigen. Hier interessiert, welche Rolle die Kirchen spielen.

Anderes Eheverständnis

Als Beispiel sei das weite Feld der Debatten um Ehe und Familie erwähnt. Der Islam kennt die Polygynie (Mohammed hatte angeblich 13 Frauen, Konkubinen und Sklavinnen; laut Koran kann ein Mann gleichzeitig bis zu vier Gattinnen haben) und die Ehe ist im Wesentlichen ein Rechtsverhältnis, das der Mann durch Verstossung der Frau beenden kann. Dagegen versteht die jüdisch-christliche Tradition die Ehe primär als Einswerden von Mann und Frau (1. Mose 2,24) - und so hat sie das Rechtsdenken informiert, bis hin zur Ehepaarbesteuerung.

Nun aber wird das traditionelle Eheverständnis (gegenseitige Ergänzung von Mann und Frau) in der westlichen Welt heftig und grundsätzlich angefochten - und im Gegensatz zu den Bischöfen hat der Kirchenbund 2005 für das Partnerschaftsgesetz Stellung genommen, das für schwule und lesbische Paare einen eigenen Zivilstand schafft. Die Wahlfreiheit des Einzelnen ist dem SEK wichtiger als die biblischen Vorgaben und die gesamte Tradition. Mit dieser und anderen Stellungnahmen hat sich der SEK weit von einer Position entfernt, in der er als Verteidiger der traditionellen christlichen Werte wahrgenommen würde.

Kirchen als Vermittler?

Die Doppelfrage ist also, ob die Gesellschaft die Religion des Islam - bzw. ihre in durchaus diversen Gemeinschaften lebenden Anhänger - integrieren kann (oder nur jene Muslime, die den traditionellen Rahmen ihrer Religion verlassen?). Und was die Reformierten dazu beitragen. Es scheint, dass Thomas Wipf die SEK-Kirchen als Vermittler sieht: Sie sollen den Muslimen helfen, sich darzustellen, sich zu reformieren und zu integrieren; sie sollen ihnen auch zurückmelden, wie sie in der Schweizer Gesellschaft dastehen und was der Integration noch im Wege steht.

Konsens oder Gleichmacherei?

Wie erwähnt, soll der Grundkonsens zwischen den Religionsgemeinschaften (der laut Wipf gemeinsam auszuhandeln und verbindlich zu beschliessen wäre) nicht Glaubensinhalte umfassen. Doch nach dem Vorschlag, den der SEK-Ratspräsident macht, würde es um sehr viel gehen, indem die Religionen sich auf die gleiche Stufe stellen.

Wipf redet von der Vielzahl der Religionen in der Einzahl: «Religion gründet in einer Offenbarung Gottes. In der Ausrichtung auf die Offenbarung Gottes ist Religion immer auch eine geschichtliche Wirklichkeit, die mit den Schwächen des Menschlichen behaftet ist. Daher darf sie sich nicht verabsolutieren. Sie muss immer neu auf die Offenbarung Gottes hören und sich von dort her in Frage stellen lassen. Religion darf keine Macht für sich in Anspruch nehmen und Herrschaft ausüben wollen. Sie soll nicht auf einem absoluten Wahrheitsanspruch gegenüber andern bestehen. Vielmehr muss Religion Gott und den Menschen dienen und sich für das Wohl aller einsetzen.»

Anti-christlicher Islam

Auf dieser Linie wäre für Wipf ein «Konsens über die Wahrheit» auszuhandeln. Es fällt auf, dass die Religionen ihre Offenbarungs-Grundlage als vorläufig relativieren sollen. Während bibelkritische christliche Theologen seit der Aufklärung eben dies getan haben, wodurch traditionelle Glaubensinhalte von zeitgeistigen verfärbt, überwuchert und verdrängt wurden, ist dies im Raum des Islam verpönt. Es macht den bleibend anti-christlichen Charakter der mekkanischen Religion aus, dass sie die Christen der Verfälschung der Offenbarung bezichtigt und Mohammed als Siegel der Propheten hinstellt, der im 7. Jahrhundert alles wieder ins Lot gebracht und die Wahrheit der Offenbarung endgültig festgestellt haben soll. Christen halten dagegen fest, dass Jesus Christus Gott endgültig offenbart hat.

So ist es schleierhaft, wie repräsentative Vertreter des Islam in der Schweiz zu einem Konsens Hand bieten könnten, in dem sie diese gegen das Christentum gerichtete Grundposition ihrer Religion - tatsächlich Wurzel der tiefsten Probleme - aufgeben.

Religionen anpassen?

Wenn der Eindruck nicht täuscht, hegt Wipf den Wunsch, dass die Religionsgemeinschaften sich durch abgesprochene Relativierung ihres Wahrheitsanspruchs und Absage an alle Herrschaftsansprüche einpassen in die postmoderne, säkulare Gesellschaft und so zum religiösen Frieden beitragen. Tatsächlich mehren sich in dieser Gesellschaft die Stimmen für eine Aufgabe aller solcher Ansprüche - von jeglicher Religion. Aber ist die Spannung zwischen dem medial gehätschelten Pluralismus der Auffassungen und dem alten Anspruch auf Wahrheit, den jede Religion vertritt, auf diesem Wege konstruktiv zu bearbeiten?

Zweifel sind angebracht. Für Herrn Müller und Frau Meier hat Religion mit Wahrheit zu tun - wenn sie denn Religion ist. Der säkulare Staat würde seine Grenzen überschreiten, wollte er den unaufhebbaren Gegensatz der Religionen einebnen oder auch nur zu moderieren versuchen. Und das Letztere werden auch Kirchen nicht schaffen. Die Religionen sind so ungleich, dass sie sich nicht auf einen Nenner bringen lassen - so sehr dies Juristen, Politiker, Pädagogen und Religionswissenschaftler wünschen mögen.

Schranke für eine Religionsgemeinschaft

Herr Müller und Frau Meier haben am 29. November kundgetan, dass dem Islam, dessen Ansprüche härter formuliert werden als die anderer Religionen, in der Öffentlichkeit eine Schranke gesetzt werden soll. Der SEK reagiert auf das Minarettverbot mit der Klage, es belaste den gesellschaftlichen Zusammenhalt und werde, statt Probleme zu lösen, neue schaffen. «Es darf nicht sein, dass religiöse Minderheiten jetzt damit rechnen müssen, ungleich behandelt zu werden», sagt Thomas Wipf am Abstimmungsabend. Mit dem Bauverbot für Minarette sei das Recht auf freie Ausübung einer bestimmten Religion eingeschränkt.

Für die Zukunft formuliert der SEK am 29. November: «Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht aus dem festen Willen, trotz der Unterschiede von Sprache, Religion und Kultur in Frieden zusammenzuleben. Der gegenseitige Respekt vor dem Anderen ist eine entscheidende Voraussetzung für den Dialog und für gelingende Integration.»

Den eigenen Glauben selbstbewusst leben

Für Respekt ist tatsächlich Arbeit vonnöten nach der Abstimmung. Für die Integration von Muslimen werden Christen indes nicht dann am meisten tun, wenn sie den Wahrheitsanspruch ihrer Religion einebnen, sondern wenn sie - wie übrigens auch der SEK im Flyer zur Abstimmung empfohlen hat - ihren Glauben selbstbewusst leben, und dies aufgrund des Wortes von Jesus Christus: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Sonst haben nämlich die praktizierenden Muslime in der ‚christlichen‘ Schweiz kein Gegenüber. Und die Gesellschaft kann sich ihrer Wertegrundlage nicht mehr versichern.

Der SEK und die reformierten Kirchen zur Minarettverbots-Initiative

Livenet-Artikel:
Christen und islamische Schutzbehauptungen
Minarett-Abstimmung offenbart Gräben
Dialog und Mission nach dem 29. November

Datum: 01.01.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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