Europa und das Christentum - was war, wie weiter?
In wütenden Attacken haben Freidenker in den letzten Jahren Religion generell als Gefahr für ein freies Zusammenleben von Menschen hingestellt. Als wäre ohne Religion alles besser. Vernünftige Zeitgenossen erkennen an, was Europa durch die christliche Botschaft gewonnen hat. Doch die Frage steht im Raum: Wie viel Christentum - und welche Gestalt des christlichen Glaubens - ist dem 21. Jahrhundert angemessen? Welche Geltung wird ihm zugestanden? Der erste Band einer Reihe, welche die Evangelische Kirche in Deutschland EKD initiiert hat, versammelt unter dem Titel "Protestantismus und europäische Kultur" Analysen und Schlaglichter.
Was soll das christliche Abendland?
Wer den letzten der acht Aufsätze zuerst liest, hat für den Weg durch den Rest Proviant. Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber äussert sich kritisch zum "christlichen Abendland". Es werde "vor allem da beschworen, wo man der Moderne mit ihren Zumutzungen Einhalt gebieten will". Zuerst romanisch und katholisch gestaltet, habe sich die Leitvorstellung auch im evangelischen Bereich ausgeprägt. Allzuoft sei sie "antihumanistisch und antidemokratisch, antiamerikanisch und oft genug antijüdisch oder antisemitisch". Laut Huber dürfen sich mit dem Begriff kein kulturelles Überlegenheitsgefühl und keine Abgrenzung mehr verbinden. Dies auch angesichts der EU-Erweiterung, nun auch in den orthodoxen Raum.
Europa hat mehr als eine Wurzel
Huber merkt weiter an, dass Kultur und Politik in Europa in keiner Epoche seiner Geschichte allein aus christlichen Wurzeln erwuchsen. Das antike Erbe wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen sind mitzubedenken. Allerdings hält er fest, "dass die Rede von der ‚jüdisch-christlichen Tradition' weit eher auf eine noch immer offene Wunde hinweist als auch ein bereits geklärtes Verhältnis". Dem immer noch fortwirkenden Konzept, dass die Kirche die Juden als Bundesvolk Gottes enterbt habe, erteilt er eine scharfe Absage.
Der Kern der Tradition
Der führende Vertreter des deutschen Protestantismus skizziert den Kern der jüdisch-christlichen Tradition mit vier Motiven: Schöpfung - Liebe - Hoffnung - Umkehr. Weil Gott der Schöpfer an seiner Schöpfung festhält, bleibt der Mensch zur Freiheit bestimmt. Gott liebt seine Menschen und rettet die Israeliten aus Ägypten; seine Liebe geht so weit, dass er die Übertretungen seiner guten Gebote vergibt und den Bruch des Bundes heilt - was im Alten Testament angekündigt, in Jesus Christus erfüllt wird. Auf Gott kann gehofft werden, weil er nach Jesus durch seinen Heiligen Geist in der Welt am Wirken ist. Gott ist der Dreieine. Und Gott ruft zur Umkehr: Er will von Menschen "eine Praxis, die auf Gerechtigkeit, also auf Verhältnisse gleicher Freiheit und wechselseitiger Anerkennung gerichtet ist".
Gott stiftet die Würde des Menschen
Diesen Kernbestand der jüdisch-christlichen Tradition akzentuiert Huber mit der Rechtfertigungslehre. Der Protestantismus hebt die unantastbare Würde des endlichen, sterblichen Menschen hervor: "Nur wenn diese Würde in seinem Angesprochensein durch Gott und nicht in seinen eigenen Leistungen gründet, zerbricht sie nicht an Fehlleistung und Schuld. Nur wenn menschlichem Leben eine Verheissung mitgegeben ist, die an der Endlichkeit dieses Lebens nicht zerschellt, kann von der Würde des Menschen in einem strengen Sinn die Rede sein." Zweitens unterscheidet der Protestantismus den Mensch von seinen Taten. "Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht." Drittens überlässt laut Huber "der christliche Glaube die letzte Wahrheit Gott und verwahrt sich so gegen jeden Versuch, letzte Wahrheiten mit Gewalt durchzusetzen…"
Wie ist nun diese Tradition in Europa einzubringen? Huber mahnt "immer darauf zu achten, dass sich das Verhältnis zwischen der Wahrheit des Glaubens und den Werten, die sich aus ihr ergeben, nicht umkehrt. Wenn das geschähe, würde der Glaube sich selbst scheinbar überflüssig machen. Aber die Werte, die in seinem Namen vertreten werden, würden auch ihre Grundlage einbüssen."
"Das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas"
Die übrigen Essays des 130-seitigen Bandes fokussieren auf historische, rechtliche und kulturelle Aspekte (drei Autoren gehen auf die deutsch-polnische Nachbarschaft ein). Mit der EU hat seit den 1950er Jahren etwas Neues Gestalt gewonnen, was Europa stabilisiert hat und die Völker am Rand anzieht - aber bei alledem redet die Vergangenheit schmerzlich nach. Die kulturelle Vielfalt, durch die Migrantenströme potenziert, erschwert eine Einigung über die Architektur des neuen Europa.
Die erste Runde der Verfassungsdiskussion ergab ein Nein zur Anrufung Gottes in der Präambel. Man beschränkte sich auf die Erinnerung an das "kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräusserlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben".
Identität und Offenheit
Der einleitende Essay von Alexandra Kemmerer macht deutlich, wie unübersichtlich der Prozess der europäischen Einigung und Verständigung ist. Zusammenleben und echte Toleranz bei wachsender Vielfalt setzt voraus, dass man um die eigene Identität weiss und dazu steht. Kemmerer zitiert den jüdischen Verfassungstheoretiker Joseph Weiler: Nur wenn ein tolerantes Europa aufrichtig mit seiner christlich geprägten Identität sei, könnten auch Juden und Muslime, Glaubende und Nichtgläubige dort Beheimatung finden, hat Weiler spitz formuliert.
Ihm haben Srdjan Cvijic und Lorenzo Zucca entgegengehalten, dass man das christliche Erbe des Kontinents nicht so einfach beschreiben könne. "Das christliche Erbe Europas ist ein Bündel unterschiedlichster Phänomene und darin aufscheinender Traditionslinien. Es ist ein Packen ‚komplexer wechselseitiger ‚säkular'-christlicher Beerbungsvorgänge'."
Vergangenheit erzählen, nicht vergessen
Tatsächlich haben die Gestalter Europas in den vergangenen Jahrhunderten sich meistens christlich gegeben, aber das Christentum regelmässig missbraucht und entstellt, wobei die Grosskirchen mitwirkten. Dies rief Gegenkräfte auf den Plan. Die Menschenrechte, so sehr sie jüdisch-christlich inspiriert sind, wurden von aufklärerischen Denkern gegen den Machtanspruch der Staatskirchen formuliert; die römische Kirche lehnte sie Jahrhunderte lang ab. Kemmerer mahnt mit dem US-Historiker Tony Judt, dass die Vergangenheit (nicht nur Verdun und Auschwitz!) jeder Generation erneut zu vermitteln ist. Dabei müssten die gegensätzlichen Erfahrungen einfliessen. "Europa fordert uns heraus, es neu zu erzählen. Seine Geschichte und unsere Geschichten. Uns selbst in ihm zu verlieren und wiederzufinden."
Viele Sprachen
Im globalen Konzert ist "Europa, die vielstimmige, als Solistin gefragt", formuliert Kemmerer pointiert. Damit sind die Europäer, wie aktuell Kosovo zeigt, politisch weiterhin überfordert. Die Vielsprachigkeit steht der eindeutigen Aussage im Weg - doch sie bewahrt auch vor falschen Einheitsfassaden und zwingt die EU-Politiker zu dauernder Abstimmung. Von Einheit der Christen, in der Ökumene anvisiert, kann trotz zahllosen hoffnungsvollen lokalen Vernetzungen, auch begeisternden europäischen Treffen wie in Stuttgart 2007, nicht die Rede sein. Die religiöse Szene ist (jedenfalls im individualistischen Westeuropa) vom Suchen des Einzelnen nach religiösen Erfahrungen geprägt. Der Protestantismus setzt diesem Suchen viel weniger Gemeinsamkeiten entgegen als die römische Amtskirche und orthodoxe Nationalkirchen.
Letzte Wahrheit als Bedrohung?
Den zweiten Beitrag des schmalen Bands hat der Wittener Historiker Jörn Rüsen verfasst. Er benennt knapp die Inhalte der Tradition, die Europa ausmachen, und fragt (wie es in Mode gekommen ist), ob nicht alle herkömmlichen Religionen "grundsätzlich eine Gefährdung der Zivilgesellschaft darstellen", indem sie die letzte Wahrheit für sich beanspruchen. Wie ist der mit säkularer Lebensweise am ehesten kompatible Protestantismus einzuschätzen? Rüsen deutet an, dass er nicht überzeugt, wenn er sich selbst säkularisiert. Er nimmt an, dass (allein) in der säkularen Zivilgesellschaft "die religiöse Differenz friedlich gelebt werden kann". Ein Blick nach Frankreich, wo der Staat, um republikanische Gesinnung zu bilden, in den Schulen das Kopftuch verbot, weckt Zweifel.
Religion als kulturelle Ressource
Nüchtern verweist der Historiker auf die Schwäche des säkularen Humanismus der Zivilgesellschaft: Er stiftet nicht Sinn, wie die Religionen es tun. "Es bleibt daher die Frage, ob nicht der säkulare Humanismus der modernen Zivilgesellschaft mit der subjektiven Tiefe und mentalen Stärke des religiösen Glaubens selber kulturell bekräftigt werden kann". Nein, wenn Religionen mit ihren Wahrheitsansprüchen gegeneinander stehen. Dann hat, so Rüsen, in der europäischen Verfassung Gott nicht Platz. Der Historiker hofft (und erwartet?) jedoch, dass sich die Religionsgemeinschaften wandeln und Gläubige bereit werden, Gläubige anderer Gemeinschaften anzuerkennen. In dem Falle würde Religion (wie man heute gern sagt) zur Ressource zur Bewältigung kultureller Konflikte avancieren. - Dass aber Religion so unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit betrachtet wird, dass demgegenüber der säkulare Standpunkt fix gegeben scheint, gibt zu denken.
Deutsche und Polen
Die Politologin Gesine Schwan spricht die politische Dimension von Schuld an. Dies "weil ungeklärte Schuldgefühle das Zentrum der mentalen Voraussetzung von Demokratie, nämlich ein solides Selbstvertrauen und Kompetenzgefühl der Bürger, schädigen". Wie können Deutsche nach 1945 mitarbeiten an einem "geeinten, möglichst versöhnten Europa"? Dann: Gibt es unter den Europäern überhaupt genügend Gemeinsamkeiten? Sich stereotyp abgrenzen von den USA, Distanz markieren gegenüber Russland und der Türkei genügt nicht. Es geht zentral darum, so Schwan, "eine Balance zu finden aus der Fundierung der gemeinsamen Werte in der christlich-abendländischen Tradition und einer kulturellen Öffnung, welche die nicht-christlichen Länder sowie die nicht-christlichen Bevölkerungsteile in den Mitgliedstaaten" einschliesst.
Die Warschauer Rechtsprofessorin Irena Lipowicz skizziert die Bedeutung der Protestanten für Polens Geschichte, der Kunsthistoriker Andrzej Tomaszewski den Reichtum des Kulturerbes Schlesiens, das in 1000 Jahren fünfmal seine Staatszugehörigkeit wechselte und zum "Brückenland und Schmelztiegel" wurde.
"Potenzial zur Gewalt"
Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der EKD, nimmt Kontroversen wie den Karikaturenstreit in den Blick und bemerkt: "Europa hat sich über sich selbst getäuscht, als es sich auf einem Zug der Aufklärung sah, der früher oder später über alle religiösen Phänomene hinwegrasen würde." Mit dem eingangs zitierten Satz zur Bedeutung des Religiösen im "Ringen um das, was Europa künftig sei", verbindet die Theologin Beobachtungen zur tiefgehenden Entkirchlichung in Ost und West und zur zwiespältigen Wahrnehmung von Religion: Einerseits helfe sie den Menschen, ihr Leben zu bewältigen, andererseits "zeigt sie ihr Potenzial zur Gewalt und zur Selbstabschliessung gegenüber säkularen Lebensformen, wie sie sich in der Moderne durchgesetzt haben".
Was gibt Halt?
Petra Bahr schneidet eine Grundfrage an: "Sind die modernen Verfassungen an die Stelle der alten Religion Europas getreten?" Und wenn dem nicht so ist, wenn (nach dem berühmten Satz des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde) der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, wie soll das christliche Erbe in ihm zur Geltung gebracht werden?
Der Terror der Aufklärer
Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Bedeutung von Religion für die Seele Europas hängen laut Bahr mit verschiedenen Geschichtsbildern und entsprechenden Mythen zusammen. So wird in der Säkularisierungsdebatte nur der Religion vorgehalten, dass sie Gewalt produziert (Kriege, Inquisition, Judenfeindschaft bis zur Shoah) - aber dass die Aufklärung auch ihre Schrecken hatte, dass die Protagonisten der Französischen und aller weiteren Revolutionen Terror praktizierten, blende man aus. "Aufklärung bleibt als europäische Lieblingsidee von sich selbst seltsam unambivalent."
Alte Religion bewahrt vor neuen Kulten
Für die EKD-Kulturbeauftragte müssen die widersprüchlichen Sichten von Religion - zivilisierende Kraft und Hilfe zur Lebensbewältigung oder Sprengstoff in gemischten Gesellschaften - aufeinander bezogen und so fruchtbar gemacht werden. "Nur wenn wir beides, die zivilisierende und die gefährdende Macht der Religion in den Blick nehmen, wird es gelingen, der vorherrschenden Frage nach der Bedeutung der Religion die Frage nach der angemessenen Gestalt von Religion in Europa an die Seite zu stellen." Das spannungsreiche Verhältnis soll nicht aufgehoben werden: "Die Religion sorgt dafür, dass Staat, Politik und Bürokratie, aber auch Wirtschaft und Wissenschaft selbst nicht religös werden. Sie verzichtet allerdings ihrerseits auf politische Herrschaftsansprüche und erkennt die Säkularität der anderen Sphären an."
Protestantismus und europäische Kultur
Protestantismus und Kultur, Band 1
Hrsg. Petra Bahr, Aleida Assmann, Wolfgang Huber, Bernhard Schlink
Gütersloh 2007
ISBN 978-3-579-05480-3
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch