Das Kamel im Nadelöhr
Reichtum und Himmel: Schliesst das eine das andere aus?
Über die Bibel kursieren viele Ideen, die zwar populär sind, aber der Nachprüfung nicht standhalten: Maria Magdalena war eine Prostituierte, der Rauch von Abels Opfer stieg senkrecht zum Himmel auf – und auch das Kamel, das durch ein Nadelöhr geht…
«Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!» (Matthäusevangelium, Kapitel 19, Vers 24). Mit diesem Wort hat Jesus Wohlhabende zu allen Zeiten herausgefordert. Meinte er wirklich, dass kein Reicher in Gottes Reich kommen könnte? Betonte Jesus die Unmöglichkeit?In vielen Predigten landauf landab hört man eine Erklärung für dieses steile Wort von Jesus. «Nadelöhr» war damals der volkstümliche Name für ein ziemlich kleines Tor in der Jerusalemer Stadtmauer. Fussgänger passten hindurch, aber wenn jemand sein Lastkamel durch dieses Tor führen wollte, dann musste sich das Kamel dazu niederknien. Für das Wort von Jesus ist damit klar: Das Kamel kommt nur schwer hindurch, aber zur Not kommt es hindurch. Und Gleiches gilt dann für die Reichen und das Himmelreich. Diese Erklärung ist so populär, dass in einem Torbogen am Kirchplatz einer Dortmunder Kirche das Kamel als Steinplastik abgebildet ist.
Bei landeskundlichen oder archäologischen Erklärungen für Bibeltexte findet man in den Kommentaren immer eins von beiden: Entweder den Hinweis auf einen archäologischen Fund, eine Ausgrabung – oder den Verweis auf einen alten Text, der vom betreffenden Sachverhalt spricht. Für das antike Jerusalem würde man vielleicht bei sehr alten Talmudsprüchen oder beim Geschichtsschreiber Josephus suchen. Bloss: Für dieses angebliche Tor gibt es nicht den geringsten historischen Hinweis! Weder hat jemand im Laufe der Geschichte es gesehen noch einen antiken Text als Beleg gefunden.
Auf Knien laufen?
Es handelt sich bei der Stadttor-These also um eine Art Ente, eine Falschmeldung. Genauer: eine «urban legend», eine umlaufende Legende, die seit Jahrzehnten ungeprüft weitererzählt und abgeschrieben wird. Gerade die Bibel hat allerlei solcher urban legends an sich gezogen.
Das harte Wort von Jesus wäre durch diese vermeintliche Erklärung leichter geworden. Aber schon einfaches Nachdenken weckt Zweifel: Hätte man damals wirklich so ein unpraktisch kleines Tor gebaut? Wozu wäre das gut gewesen? Und – wenn ein Kamel sich niederkniet, wie sollte es dann noch durch das Tor kommen? Auf Knien laufend? Oder robbend?
Auch die Ankertau-Deutung hilft nicht
Übrigens ist auch eine andere Erklärung für das Jesuswort kaum zutreffend: Das Wort «Kamel» («kamelos») soll im Griechischen damals «kamilos» ausgesprochen worden sein, was auch Ankertau bedeutet. Dagegen spricht dreierlei: An anderer Stelle meint Jesus sicher ein Kamel, wenn er Kamel sagt (Matthäusevangelium, Kapitel 23, Vers 24). Das Ankertau würde die Sache auch nicht besser machen, denn es geht genauso wenig durch ein Nadelöhr wie das Höckertier.
Und schliesslich: Jesus benutzte oft groteske Worte, um auf eine bestimmte Wahrheit aufmerksam zu machen, so zum Beispiel das Wort vom Balken im Auge (Matthäusevangelium, Kapitel 7, Vers 3). Ähnlich gelagert ist auch das Wort von Salz. Wenn es kraftlos geworden ist, kann es nicht mehr salzen (Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 13). Was ist gemeint? Nun, Salz kann einfach seine Salzkraft nicht verlieren. So lautet auch eine alte rabbinische Äusserung sinngemäss: So wie eine Mauleselin (die ja biologisch unfruchtbar ist) keine Nachgeburt haben kann, so kann Salz nicht unsalzig werden. Es ist unmöglich.
Die gleiche Unmöglichkeit meinte Jesus auch mit seinem Bildwort vom Kamel im Nadelöhr.
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Zum Thema:
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Bibelinterpretation: Wie biblische Geschichten falsch verstanden werden
Autor: Dr. Ulrich Wendel
Quelle: SCM Bundes-Verlag (Schweiz)