Vatersehnsucht
«Kinder werden mehr und mehr weggeschoben»
Als Bodyguard hat er bekannte Persönlichkeiten wie Muhammad Ali, Boris Becker und Nena beschützt. Heute arbeitet Michael Stahl als Gewaltpräventionsberater an Kindergärten und Schulen und sagt: «Es ist immer mehr Unruhe in den Klassen, weil immer mehr Unruhe in den Seelen ist.»
Livenet: Michael Stahl, gibt es heute mehr Gewalt als früher?Es gibt nicht mehr Gewalt als früher, aber sie ist intensiver geworden. Wo man sich früher in den Schwitzkasten nahm und raufte, da wird heute auf am Boden Liegende eingetreten und geschlagen. Ich unterrichte jährlich zwischen 20'000 und 30'000 Menschen, bekomme im Monat über 1'000 Mails, da bekommt man einiges mit. Das Hauptproblem ist, dass die Familien mehr und mehr auseinanderbrechen. Damit fehlen der Halt, die Sicherheit und Geborgenheit. Stattdessen werden Kinder mehr und mehr weggeschoben.
Lassen sich die Aggressionen bei jungen Menschen so einfach erklären?
Ein grosser Teil lässt sich bestimmt damit erklären. Ein deutscher Vater hat im Durchschnitt drei Minuten Zeit für sein Kind, dagegen sitzt ein Jugendlicher jeden Tag etwa siebeneinhalb Stunden vor irgendeinem Bildschirm. Diese Kisten sind kalt und leer – ohne jegliche Gefühle, egal was da raus kommt, keiner, der davor sitzt, wird umarmt, mit keinem geweint. Ein Kind braucht in erster Linie Vater und Mutter. Wir müssen in den Familien wieder anfangen, miteinander zu reden. Die Lehrer haben es immer schwerer, müssen sich heute einen ganz anderen Ton anhören und werden beleidigt.
Ich bin überzeugt, dass immer mehr Unruhe in den Klassen ist, weil immer mehr Unruhe in unseren Seelen ist. Wir waren früher 32 Kinder in der Klasse. Wenn ich heute in Kindergärten Projekte mache, zappeln die Kinder ständig. Als kleiner Junge wollte ich ein Abenteurer sein, ich habe mich ausgetobt. Das, was sich angestaut hat, konnte ich beim Fussballspielen oder am Sandsack raus lassen. Heute kommen viele Kinder nicht mehr an die frische Luft. Unsere Jungs dürfen heute gar keine Jungs mehr sein. Ein Junge muss sich auch mal raufen können. Und es müssen Männer in die Schulen und Kindergärten. Nur von einem Mann lernt ein Junge, wie er ein Mann wird. Wenn wieder Frieden in den Seelen ist, können wir auch wieder mit 25 oder 30 Kindern arbeiten.
Sie schreiben in Ihren Büchern «Vater Sehnsucht» und «Verbranntes Männerherz», wie wichtig die Rolle des Vaters ist und wie fatal es sein kann, wenn dieser fehlt.
Ja, richtig. Kinder brauchen ganz besonders Liebe und Anerkennung von ihrem Vater. Kürzlich arbeitete ich in einer christlichen Einrichtung mit einem hochaggressiven 17-Jährigen, der der Chef einer kleinen Bande war. Als er spürte, dass ich es lieb mit ihm meinte, fragte ich ihn in der Versammlung vor allen Teilnehmern: Wie oft hat dich dein Vater geschlagen? Er flüsterte: Sehr oft. Dann fragte ich ihn; wie oft er andere verprügelt habe. Sehr, sehr oft, sagte er. Und dann schaute er mich an, und sagte vor allen zu mir: Du bist der erste Mann in meinem Leben, der mich lobt.
Das ist es, das Lob der Eltern und ganz besonders von dem Elternteil, das oft gar nicht mehr da ist. Ein Vater muss seinem Sohn sagen, dass er ein toller Kerl ist. Wenn dieser das nicht hört, ist Chaos in seinem Leben. Wir Menschen werden nicht nur schuldig durch gewisse Taten, sondern auch nach nicht erbrachter Liebe. Nicht da sein, schweigen, ist oft noch schlimmer als vieles andere.
Was können Eltern tun, wenn sie nicht an die Kinder rankommen?
Das höre ich oft. Als Vater oder Mutter musst du nur etwas mit deinem Kind unternehmen. Wenn dein Kind dann reden will, fängt es von alleine an. Ich fragte schon hunderte von Jungs, was sie am liebsten mit ihren Papas machen wollten. Nie hat mir einer zur Antwort gegeben, dass er am PC mit ihm sitzen oder Play Station spielen möchte. Nein. Sie wollen ein Baumhaus bauen, Fussballspielen, Fischen gehen, usw. die Die einfachsten Dinge sind oft die besten in unserem Leben. Die Mädchen wollen oft nur mit ihrer Mutter shoppen gehen oder sie sehnen sich danach, mit der Mama einen Kuchen zu backen. So einfach wären Sehnsüchte zu stillen.
Welche Bedeutung hat der Glaube bei der Gewaltprävention?
Gewalt entsteht meist durch eigene Verletzungen, die nicht vergeben wurden. Wer nicht vergeben kann, lässt sich von Wut und Hass treiben. Wer vergeben kann, ist frei.
Michael Stahl ist ehemaliger VIP-Bodyguard, Fachlehrer für Selbstverteidigung, Gewaltpräventionsberater, Autor. Seine Arbeit wurde 2009 von der «Neues Leben Stiftung» mit dem Werte Award für innovative und strukturverändernde Projekte ausgezeichnet. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Er ist einer der Hauptredner an der Männerkonferenz «ICF-Men's World» vom 5.-7. September im Campus Sursee.
Webseite:
Männerkonferenz «ICF-Men's World»
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Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet