Der Mann, der Zürich zum Blühen brachte – mit Gottes Wort
Die Biographie zeigt, wie überlegt Bullinger die Limmatstadt – damals 5000 Einwohner – aus der tiefen Krise führte, in die Zwinglis expansive Reformationspolitik sie gestürzt hatte. Wie er, der sein Leben dem Dienst an Gottes Wort geweiht hatte, die Reformation festigte. Und wie er, vielfach angefochten, in seiner Amtsperiode von 44 Jahren den Kleinstaat umprägte und zum Vorbild für zahlreiche reformierte Gemeinwesen machte (ein Vergleich zu Landeskirche und Obrigkeit heute drängt sich an vielen Stellen geradezu auf).
Um zu zeigen, wie Bullingers Wirken Kreise zog, schildert Fritz Büsser im ersten Band Bullingers Herkommen und Jugend, sein frühes Wirken und Ehe- und Familienleben. Davon ausgehend, schreitet er einen ersten Kreis ab: die Tätigkeit für Zürich. Das übrige Material hat der 80-jährige frühere Kirchengeschichtsprofessor in weiteren Kreisen versammelt, die den zweiten Band bilden: Bullingers Bedeutung für die reformierte Eidgenossenschaft und für die Reformierten in Europa.
Der Durchbruch zum Glauben
Eingangs kommt die humanistische (nicht theologische!) Bildung zur Sprache, die der Bremgartener Priestersohn in Emmerich und Köln genoss: Bullinger war als Gelehrter auf der Höhe seiner Zeit, was theologische wie historische Werke unter Beweis stellen. Vor allem aber interessiert, wie der frühreife Teenager als Humanist zum gewissen evangelischen Glauben durchbrach. Laut Büsser packte ihn Gott „durch sein Wort“, als er sich den Quellen des Christentums zuwandte.
„Bullinger fand in Köln in einzigartiger Weise, in einmaliger Selbständigkeit, Konsequenz und Folgerichtigkeit zur Reformation, in der gleichen Originalität, welche später sein ganzes Leben und Werk auszeichnen sollten“. Diese Wende geschah nicht ohne schwere innere Kämpfe. In ihnen sei er mehrfach am Leben verzweifelt, doch Gott habe sein Gewissen derart beruhigt, dass ihn auch die schwersten Stürme nicht mehr vom Anker reissen könnten, schrieb er vier Jahre später einem Freund.
Taufe – wie Beschneidung – Zeichen des Bundes
Von Zwingli 1525 zu den Streitgesprächen mit den Täufern zugezogen, kam Bullinger zur Begründung der Kindertaufe im ewigen Bund Gottes. Diesen hatte Gott, so Bullinger, schon mit Adam und dann mit Abraham geschlossen – und unmündige Kinder mittels der Beschneidung darin eingeschlossen. Bullinger sah wie wenig andere Theologen Gottes Handeln mit den Menschen in einen einzigen ewigen Bund zusammen. So wie zuerst die Beschneidung drückte (von Johannes dem Täufer an) die Säuglingstaufe die Zugehörigkeit zum Bundesvolk aus: „Zum ersten ist der touff nütz anders dann ein anfenglich zeichen des volck gottes, das uns zu Christo und zu einem unstrefflichen leben pflichtet…“
In seinem Alterswerk lässt Fritz Büsser die Quellen reichlich sprudeln. Aus ihrem lebendigen Zueinander (und unter umfassender, griffiger Verwertung der wissenschaftlichen Literatur) ersteht ein facettenreiches Bild des beharrlichen Kirchenleiters und Vielschreibers, des ausgleichenden eidgenössischen Politikers und europaweit wirkenden Beraters und Seelsorgers. Zugute kommt dem Biographen, dass Bullinger wie kaum ein Mensch seiner Zeit über alle Abschnitte und Bereiche seines Lebens schriftlich Rechenschaft gab. Abschnittweise werden Briefe und Statements und Beschlüsse des Zürcher Rats, welche die Reformation durchführte, im Deutsch jener Tage zitiert.
Der zweite Teil des ersten Bands – gute 200 Seiten – fasst das Werden der Zürcher Staatskirche unter den beiden Reformatoren prägnant zusammen. Vor dem Hintergrund des städtischen Gemeinschaftsgedankens des Spätmittelalters hatte Zwingli Staat und Kirche in eins gesehen und die beiden zum gemeinsamen Handeln zu Gottes Ehre verpflichtet (dies führte etwa dazu, dass die politische Obrigkeit der Kirche das Züchtigen und Strafen der Bürger abnahm – gegen das heftige Nein der Täufer, welche Zucht und Bann der geistlichen Gemeinschaft vorbehielten).
In Katastrophe und Staatskrise Beruhigung…
Nach dem grossen Sieg in Bern, das 1528 die Reformation endgültig annahm, zogen infolge der ausgreifenden politischen Visionen des Reformators dunkle Wolken auf. Als Zwingli im Oktober 1531 auf dem Schlachtfeld gefallen war, forderten die Vertreter der Kirchgemeinden der Zürcher Landschaft unter anderem, es dürften nur noch friedfertige Pfarrer predigen, keine Kriegshetzer mehr.
Bullinger (auch von Basel und Bern heftig umworben) liess sich von der Zürcher Regierung zum Nachfolger Zwinglis wählen. Dabei wandte er die Gefahr des Maulkorbs für die Prädikanten ab, indem er vor den Räten „für die Freiheit von Gottes Wort plädierte“, wie Büsser schreibt. Der Biograph liefert auch die Kernsätze von jenem wegweisenden 13. Dezember 1531: „Daz wort gotts will ungebundenn sin: und muoss man Gott mee dann den menschen ghorsammen… Gotswort will und soll nitt gebunden sin. Sunder waz man darinn findt es sye waz es welle, oder wen es ioch anträffe, soll fry geredt werden.“
…und geschickte Einflussnahme auf die Politik
Bullinger verwies auf Propheten wie Samuel und Jeremia, die der Obrigkeit „uss gotswort mancherley leeren und straaffen ggäben hand“. Im folgenden Jahr, in einer weiteren heftigen Kontroverse, beschloss die Obrigkeit auf den Rat Bullingers hin, dass die Pfarrer jederzeit mit ihren politischen Anliegen an die Politiker gelangen könnten: „…wann sy ankloppffend an die radtstub, und ettwas fürzuobringen habind, söllind y ohne uffzug, für gelassen werden“.
Der Reformator nutzte das Mittel des so genannten „Fürtrags“ in der Folge weise und gestaltete die Politik der Obrigkeit, die sich als eine christliche verstand, aus dem Hintergrund mit. Die freundschaftlichen Beziehungen zu führenden Familien der Stadt, die der gebürtige Aargauer später mit ehelichen Verbindungen seiner Kinder besiegelte, halfen ihm dabei. Büsser spricht von weithin „ungetrübten Beziehungen zwischen der politischen und geistlichen Führungsschicht“.
Pfarrer fürs Gemeinwesen
Mit der Zürcher Prediger- und Synodalordnung vom 22. Oktober 1532 festigte Bullinger die junge Kirche. Die Pfarrer, die sich schon damals nicht eidlich auf ein bestimmtes kirchliches Bekenntnis verpflichten mussten, hatten mit der Verkündigung des Evangeliums den „Kampf gegen Missbräuche, Aberglauben, Sünde und Laster“ zu führen – „damit wir vil menschen Gott und der gerechtigkeit gewünind“.
Zweimal jährlich wurden die Pfarrer in der alle Geistlichen umfassenden Synode zensuriert; ihre Arbeit – aber auch ihre Lebensführung! – wurde öffentlich bewertet. Die Sanktionen fielen in der Regel milde aus, doch Bullinger, so geduldig er war, liess nicht locker. Rund die Hälfte von 50 Entlassenen wurde später wieder eingestellt. Büsser fasst das Ringen des Reformators um eine wirkliche, dauerhafte Reform des gesamten kirchlichen Lebens in die Worte: „Im Pfarrhaus muss sie beginnen, wenn eine Reform in Gemeinden und Kirche zustandekommen soll.“
Unablässig das Bibelwort ausgelegt
Bullinger gab dem Amt des Zürcher Antistes (Kirchenvorsteher, heute Kirchenratspräsident) sein Gepräge. Laut Büsser predigte er durchschnittlich drei Mal pro Woche, am Sonntag, Dienstag und Freitag – insgesamt etwa 7000 Mal. Während vier Jahren (1542-46) legte er sonntags das Lukasevangelium fortlaufend aus; der Prophet Jesaja beschäftigte ihn ebenso lang.
In der Mitte seiner Tätigkeit stellte er 50 Predigten in fünf „Dekaden“ zusammen, welche die wichtigsten Stücke der evangelischen Lehre enthalten; sie waren für Generationen reformierter Pfarrer (und englischer Theologen!) massgebend; nun sind sie in der neuen sechsbändigen Ausgabe seiner Schriften nachzulesen. Predigen war für Bullinger zentral, denn er war überzeugt, dass „die Verkündigung von Gottes Wort Gottes Wort selbst ist“ (Zweites Helvetisches Bekenntnis). Wie Gottfried Locher schrieb, „hängt im römischen Katholizismus alles daran, dass Messe gelesen wird, im Protestantismus, dass Gottes Wort zur Sprache kommt“.
Reform im Zeichen der Endzeit
Büsser unterstreicht, dass Bullinger wie die anderen Reformatoren keine neue Kirche gründen wollte, sondern sich als Arbeiter für die Re-form verstand, für die Rückkehr zur Gestalt der Kirche der ersten Jahrhunderte. Dies schien umso dringender, als seine Zeit von Krieg und Pest und grossen Unwägbarkeiten erschüttert wurde. Wie alle Reformatoren „glaubte auch Bullinger, dass der Jüngste Tag nicht fern sei. Kirchenspaltung, Glaubenskriege und Verfolgung liessen sich leicht als Schlussphasen im grossen Kampf zwischen Christ und Antichrist erkennen“. Seine 100 Predigten über die Offenbarung wurden in ganz Westeuropa gelesen.
In allem ging es Bullinger darum (den Vers aus Matthäus 17,5 setzte er über alle Schriften), dass Christus gehört wird. So kommt es dazu, dass „Christus in uns lebt“ (Galater 2,20). Büsser bezeichnet mit Mark S. Burrows dieses Verständnis von Heilsgewissheit und Heiligung als Mitte von Bullingers Predigen und Wirken: Gott gibt den Gläubigen nicht nur Gnade – er gibt sich selbst.
Sozial engagiert
Bullinger hatte die Menschen Zürichs im Blick und trug wesentlich dazu bei, dass die Stadt (angesichts von Inflation, Bettlerplage, Wucher) den Armen unter die Arme griff. Immer wieder habe er über Fragen der Kirchengüter und Armenpflege nachgedacht, schreibt der Biograph. Der Antistes wehrte sich für alle Gruppen sozial Bedrängter und stand Kranken als Seelsorger zur Seite.
Büsser stellt weiter Bullingers Verdienste um die einzigartige und für ihre Zeit modellhafte Zürcher Pfarrerschule heraus. Dabei war Zürich im Jahrhundert der Reformation „keineswegs so ‚zwinglianisch’ oder ‚puritanisch’, wie es unsere Zeit sich vielfach vorstellt“: Die kleine Stadt brachte nicht nur in diversen Wissenschaften, sondern auch in Literatur, Theater und Musik Bedeutendes hervor. Eine nach Büsser epochale Leistung der Zürcher Gelehrten, die von Bullinger gefördert wurden, war die erste deutsche Vollbibel 1531; das Alte Testament wurde noch im selben Jahrzehnt revidiert.
Dossier über Heinrich Bullinger und die Zürcher Reformation
Buchttipp:
Fritz Büsser
Heinrich Bullinger
Leben, Werk und Wirkung
2 Bände, Theologischer Verlag Zürich, 2004/2005
je 48 Franken, 30 Euro
ISBN 3-290-17297-X