Erhörte Gebete

Gesucht: Merys Eltern – tot oder lebendig

Sie ist in La Paz geboren und lernt auf die harte Tour, was Verlust heisst. Ihre Eltern werden gekidnappt und umgebracht. Sie wünscht sich zu sterben. Bis Mery Maldonado (35) den Sinn des Lebens in der Schweiz findet.

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Mery Maldonado mit ihrer Familie
Sie ist aufgewachsen mit Sonne, Wind und Weite, im kargen Hochland Boliviens, wo sich Alpacas und Lamas gute Nacht sagen. Ein Stück heile Welt – scheint es. Doch schon im Spielgruppenalter erlebt Mery Maldonado ihre erste Enttäuschung. «Ich werde dich nie verlassen», hat ihre Grossmutter gesagt. Dann stirbt sie bei einem Autounfall. Mery fühlt sich allein zurückgelassen. Ihre Grossmutter war die wichtigste Bezugsperson gewesen. Denn ihre Eltern zogen pausenlos als Handelsreisende durchs Land. Erstmals fragt sich Mery: «Warum bin ich auf dieser Welt?»

Kindheit im Hochland

Die nächste Station ist ein verlottertes, aber malerisches Andendörfchen. Hier kommt Mery in die Obhut ihrer Grosseltern väterlicherseits. Sie lernt, Alpacas und Lamas zu weiden, die Wolle der Tiere zu spinnen, mit Feuer zu kochen. Ein Leben, das Mery gefällt. Bis ihre Eltern sie in die Stadt mitnehmen, wo sie zur Schule gehen sollte.

Sechs Kinder allein zu Hause

Die Stadt heisst El Alto: eine Millionenmetropole, die in den letzten Jahrzehnten oberhalb von La Paz angewachsen ist – sie wird zu Merys Alptraum. Der Verkehr, der Gestank von Abgasen und Abfällen, der Lärm schockieren sie. Noch mehr die Tatsache, dass sie plötzlich merkt: Sie hat fünf Geschwister, mit denen sie auf engem Raum zusammenleben muss. Während die älteren Geschwister streiten, verkriecht sich Mery verängstigt in einer Ecke. Wochenlang bleiben die Kinder sich selbst überlassen. Die Eltern sind geschäftlich unterwegs.

«Weg von hier», geht es Mery täglich durch den Kopf. Bloss wohin? Schon die Strasse zu überqueren scheint lebensgefährlich für ein kleines Schulmädchen. Doch vielleicht wäre es ja schöner zu sterben, als ein trauriges Dasein zu führen? Welchen Sinn sollte das Leben haben? Mery sehnt sich danach, tot zu sein. Aber es bleibt nicht bei dem Wunsch. Als sie auf ihre jüngere Schwester aufpassen muss, will sie ihr Schicksal selbst an die Hand nehmen... «Warte am Strassenrand», weist Mery ihre Schwester an und springt entschlossen vor einen Lastwagen, der auf der Hauptstrasse heranbraust. Ihr tollkühner Plan geht nicht auf: Der Chauffeur bremst rechtzeitig – die einzige Folge für Mery ist eine Strafpredigt.

Spiel mit dem Tod

So rasch gibt sich Mery aber nicht geschlagen. Ihr nächster Gedanke gilt dem Rattengift im heimischen Schrank. Dieses Mal ist es eine Tante, die vorbeischaut und den Selbstmordplan durchkreuzt. «Gefährliche Gifte gehören nicht in die Reichweite von Kindern», meint die Tante und stellt das Mittel an einen sicheren Ort. Und Mery versteht den Fingerzeig: «Gott will nicht, dass ich sterbe.» Dass Gott existiert, ist für sie klar. Oft genug hat sie ihrem Grossvater, einem strengen Pastor, zugehört.

Bessere Zeiten brechen an. Merys Eltern beginnen, in der Stadt zu arbeiten, lassen ein Haus bauen und verbringen mehr Zeit daheim – was aber auch zu mehr Streit führt. Die Freude ist von kurzer Dauer: «Jetzt, wo ich endlich Eltern habe, wollen die sich scheiden lassen», seufzt Mery. Ihr Vater wählt einen ebenso einträglichen wie gefährlichen Beruf: Geldwechsler. Zweimal überfallen ihn Verbrecher und plündern ihn aus. Er kommt mit dem Leben davon. Seine Geschäfte florieren, der Wohlstand der Familie wächst – die Angst bleibt. Nur der Alkohol kann sie ab und zu runterspülen.

Verzweifelte Suche

Dann geschieht ein Ereignis, wie es einschneidender nicht sein könnte: Eine Gaunerbande kidnappt Merys Eltern. Zwei lange Monate bleiben beide spurlos verschwunden. Unzählige Suchaktionen mit Polizei, Bekannten und Verwandten verlaufen erfolglos. Mery ist nun 19 Jahre alt und studiert Linguistik an der Universität in La Paz. Aber die Vokabeln gehen ihr nicht in den Kopf. «Schlimmer als schlechte Nachrichten war, überhaupt keine zu bekommen», betont Mery. Sie verzweifelt immer mehr. So sehr, dass sie sich an Gott wendet: «Gib mir meine Eltern zurück, tot oder lebendig. Ich halte diese Ungewissheit nicht aus.» Eine Stunde später hört Mery im Radio, das vermisste Ehepaar sei gefunden worden. Tot, wie sich leider herausstellte. HP Dubler Mery läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter: «Gott hat mein Gebet ernst genommen.»

Die kommenden Monate werden zur Qual für Mery. Als ob der Schmerz des Verlustes nicht genug wäre, drängen sich unzählige Kämpfe vor Gericht und Behörden auf. Die Eltern haben Grundstücke und Häuser hinterlassen, die sich andere Parteien aneignen wollen. Die Kidnapperbande unterhält Beziehungen zur Polizei. «Ich fühlte fast körperlich, wie die Verbrecher uns verspotteten.» Ähnlich wie in ihrer Kindheit hat Mery nur noch einen Wunsch. Sie schreit zu Gott: «Nimm mich weg von hier – dann werde ich dir dienen.»

Flugticket nach Zürich

Kurz darauf erhält sie einen Anruf aus der Schweiz. «Mery, besuche mich! Ich bezahle dir das Flugticket», bittet eine Tante. Mery lässt sich nicht zweimal bitten. Sie packt die Koffer, reist zu Verwandten nach Peru und Chile – und nach Zürich. Kaum angekommen, lädt ihre Tante sie in einen Gottesdienst im Christlichen Zentrum Buchegg ein. Der Pastor beendet die Predigt mit einem Aufruf: «Willst du dein Leben Jesus anvertrauen?» Keine Frage für Mery – jetzt will sie ihr Versprechen wahr machen. Mery spricht ein Gebet und spürt, wie sich Krämpfe in ihrem Körper lösen. «Es war, als hätte eine Hand mich vor dem Ertrinken gerettet», erinnert sie sich. Nach ein paar Wochen hört sie, dass man seinen Schuldigern vergeben sollte. Mery stehen die Nackenhaare zu Berge: Wie bitte, Mördern vergeben? Da erklärt eine Hauskreisleiterin, dass Vergeben keine Gefühlssache sei, sondern eine Entscheidung. Fast mechanisch spricht Mery den Mördern Vergebung zu. «Das setzte einen Heilungsprozess in Gang.»

Seither ist über ein Jahrzehnt vergangen. Heute ist Mery verheiratet, hat zwei Kinder und betreibt die spanische Sprachschule Hablahoy. Ist sie glücklich? «Auf jeden Fall dankbar gegenüber Gott», lacht sie. «Meine Kinder haben die Familie, die ich mir gewünscht hätte.» Statt der bolivianischen Sonne geniesst Mery nun die vier Jahreszeiten der Schweiz – auf Ski sogar den Winter.

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Datum: 03.01.2014
Autor: Stephan Lehmann-Maldonado
Quelle: viertelstunde für den Glauben

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