Christen privilegieren?
Maja Ingold: «Wir müssen unbedingt mehr tun»
Werden christliche Flüchtlinge aus Nahost diskriminiert? Diese Frage stellte EVP-Nationalrätin Maja Ingold dem Bundesrat in einer Interpellation. Weil seine Antwort sie nicht befriedigte, reiste sie in den Libanon, um sich selbst ein Bild zu verschaffen. Im Gespräch mit Livenet fasst sie ihre Erkenntnisse zusammen.Maja Ingold, ist es richtig, dass Sie christliche Flüchtlinge aus Syrien für die Aufnahme in der Schweiz nicht privilegieren wollen, wie es auf der Titelseite der Juni-Nummer von «reformiert.» heisst?
Maja Ingold: Ich möchte, dass alle an Leib und Leben bedrohten Flüchtlinge Aufnahme finden, deshalb habe ich zuerst einmal eine Interpellation eingereicht, um festzustellen, ob der Bundesrat davon weiss, dass christliche Flüchtlinge in Lagern oder bei der Registrierung benachteiligt werden. Der Bundesrat antwortete darauf, das sei klar nicht der Fall. Allein die Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit seien Kriterien für die Aufnahme, und das gelte für alle. Die Antwort stellte mich nicht zufrieden, und so reiste ich in den Libanon und sprach dort mit Hilfswerken und UNHCR-Vertretern. Ebenso hatte ich Kontakt mit Flüchtlingsfamilien. Dabei wurde mir klar: Die Not ist sehr gross. 1,5 Mio Flüchtlinge müssen allein in der Bekaa-Ebene ausharren, während der Krieg bereits vier Jahre andauert. Verdienstmöglichkeiten gibt es praktisch keine. Doch wenn sie die Miete für ihr Zelt nicht mehr bezahlen können, werden sie aus dem Flüchtlingslager geworfen! Alle leben in Angst und es geht ihnen schlecht.
Ich verstand jetzt die Strategie des Bundesrates, die Schutzbedürftigsten aufzunehmen, um humanitäre Katastrophen zu vermeiden. Laut Kennern der Lage suchen die syrischen Christen selten Lager auf, weil sie andere Unterkünfte finden. Wenn christliche Flüchtlinge schutzbedürftig sind, werden sie genauso aufgenommen. Es wäre aber nicht gerecht, nicht schutzwürdige christliche Flüchtlinge auf Kosten von schutzbedürftigen anderer Religion zu bevorzugen. Wichtig ist vor allem, dass wir die Arbeit der Hilfswerke vor Ort, und das sind kirchliche und andere, noch mehr unterstützen. Und unser Appell an den Bundesrat ist, dass zu den Aufgenommenen auch die in Not geratenen Christen gehören.
Laut andern Berichten gibt es auch Christen, die durchaus zwischen allen Stühlen sitzen. Müsste man ihnen nicht speziell helfen?
Philippe Daetwyler von der Zürcher Kirche hat mit andern Leuten gesprochen. Es drängt sich wohl auf, die Analyse des Bundesrates zu ergänzen. Philippe und ich haben die gleichen Ziele. Er hat aber eher kirchliche Kontakte und Quellen, ich habe aus einer staatspolitischen Sicht recherchiert. Beides muss zusammenfliessen. Es ist wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen können.
Wäre nicht die Forderung sinnvoll, Christen zu bevorzugen, wenn sie ebenso schutzbedürftig sind wie Muslime, weil sich Christen in der Schweiz wohl besser integrieren?
Ja genau. Das versteht sich meiner Meinung nach von selbst. Wenn wir die Wahl haben, sollten wir Menschen aufnehmen, welche sich für die Integration besser eignen. Wir können aber nicht Christen bevorzugen, wenn sie weniger schutzwürdig sind als Angehörige anderer Religionen. Dabei kann es sich um Familien mit kranken Eltern oder behinderten Kindern oder gebrechlichen Betagten handeln.
Wenn das der Fall wäre, was der Bundesrat in Abrede stellt – und das war auch der Grund, weshalb ich in den Libanon reiste –, müsste man darauf zurückkommen. Solche dramatischen Schicksale gibt es bestimmt. Da darf die Weltgemeinschaft nicht wegschauen. Es braucht einerseits Flüchtlingskontingente, und es braucht anderseits den Einsatz vor Ort. Es gibt ja auch zahlreiche intern Vertriebene, die gar nicht als Flüchtlinge registriert sind. Auch sie brauchen tatkräftige Hilfe. Es ist aber auch wichtig, dass nicht alle in den Westen reisen, gerade auch die Christen, welche mehrheitlich zu den Gebildeten in den Kriegsgebieten gehören. Sie fehlen beim späteren Aufbau von gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Falls Syrien wieder zum Funktionieren kommt, ist der Staat auf sie angewiesen. Wir müssen deshalb einstehen für nachhaltige Unterstützung in den Konfliktgebieten, nicht nur Nothilfe. In Libyen, Ägypten und andern Ländern Afrikas sehen wir, wie chaotisch, undemokratisch und weiterhin konfliktträchtig diese Staaten nach Krieg und dem Brain Drain der Gebildeten sich entwickeln.
Am 21. Juni ist der Flüchtlingssonntag. An diesem Sonntag
sind Christen und Kirchen aufgerufen, das Schicksal der zirka 50
Millionen Flüchtlinge auf der Welt zu thematisieren. Christen in der
Schweiz sollen angesichts dieser Not nicht schweigen, fordert die
Schweizerische Evangelische Allianz SEA (zur ganzen Meldung).
Zur Webseite:
Fachtagung zum Flüchtlingssonntag in Zürich
Interpellation von Maja Ingold und Antwort des Bundesrats
Zum Thema:
«Nicht schweigen!»: Flüchtlinge brauchen Schutz und Würde
Freikirchen und die Flüchtlinge: Den persönlichen Bezug zu den Migranten herstellen
Das Flüchtlingsdrama: Das europäische Dilemma und die Christen
Aufruf der SEA: Das Schicksal der Bootsflüchtlinge drängt zum Handeln
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet