Wohl der Gesellschaft
Sollen sich Kirchen einmischen?
Wie viel Religion tut der Gesellschaft gut? Diese Frage steht im Hintergrund der Debatte um das politische Engagement der Kirchen. Nach dem offensiven Youtube-Video des Einsiedler Abts Martin Werlen hat «20 Minuten online» eine Umfrage durchgeführt – mit merkwürdigem Ergebnis.
«Selbstverständlich ist die Kirche politisch. Und zwar an vorderster Front», schrieb Abt Martin, der Medienbeauftragte der Schweizer Bischöfe, zum Nationalfeiertag.
In der folgenden Online-Umfrage der Gratiszeitung fanden jedoch zwei Drittel, die Kirchen sollten sich nicht zu Wahlen und Abstimmungen äussern. Fast so viele meinten zudem, die Kirchen sollten in erster Linie «Menschen in schwierigen Situationen unterstützen und begleiten».
Falsche Alternative
Die Online-Umfrage lief in den ersten Augusttagen unter dem eigenartigen Titel «Darf Politik auch Glaubenssache sein oder sollen die Kirchen stillhalten und beten, wie es die SVP fordert». Wie es das Medium erwarten liess, war sie nicht repräsentativ: Frauen machten bloss 17 Prozent der über 4200 Antwortenden aus, Konfessionslose 35 Prozent.
Zu denken gibt bei dieser Beteiligung, dass die Erwartung, die Kirche solle Menschen helfen, viel grösser ist als die Erwartung, dass sie den Glauben vermittelt (62 zu 27 Prozent). Allerdings mussten sich die Antwortenden zwischen dem «Unterstützen und Begleiten» von Menschen in schwierigen Situationen und dem Glauben-Vermitteln als Kernaufgabe entscheiden – eine falsche, von der Umfrage aufgezwungene Alternative. Denn die Kirchen, Freiwilligen-Organisationen ersten Ranges, motivieren ja zum Helfen, indem sie Glauben vermitteln und Hoffnung und Liebe predigen.
Freidenker: Werte – aber kein religiöses Fundament
Was bekannt war, wird hier bestätigt: Konfessionslose wollen eine Politik und ein öffentliches Leben ohne kirchliche Stellungnahmen. Parteien mit einem christlichen Wertefundament sehen sie als nicht mehr zeitgemäss an. Wie locker Konfessionslose die Umfrage nahmen, zeigt die Tatsache, dass alle sich zu den beiden genannten Punkten äusserten, doch nur jeder Sechste zu konkreten Fragen (Asylpolitik, Sexualität, Sterbehilfe). Immerhin die Hälfte der Konfessionslosen in der Umfrage meint, auch im Verhältnis zum Islam sollten die Kirchen keine Akzente setzen.
Wahlkampf für eine religionslose Schweiz
Vor wenigen Tagen haben Konfessionslose im Kanton Zürich eine Liste mit 34 Nationalratskandidaten eingereicht.
Religion zählt für sie zu den «ewiggestrigen Vorstellungen», die ins private Leben Einzelner gehören. Menschen sollten erklärt bekommen, «wie Menschen funktionieren und wie Probleme gelöst werden können – ohne die vage Hoffnung auf Hilfe von oben», fordert die Pflegefachfrau Nicole Spillmann.
Der Arzt Alois Geiger, der drei Jahre bei Dignitas gearbeitet hat, ist auf der Liste, «weil jede Religion durch das Akzeptieren einer über dem Menschen stehenden moralischen Macht keine humanen Antworten auf die Fragen des täglichen Lebens geben kann».
Heilung für die «zerbrochene Gesellschaft»
Die Gewaltausbrüche und Plünderungen in England haben eben bewusst gemacht, dass der Staat dem Bösen wehren muss. Kann er dies besser tun, wenn seine moralischen Werte nicht religiös abgestützt sind und die Kirchen wenig oder gar keinen öffentlichen Einfluss haben? Wenn der Appell von Jesus, den Nächsten zu lieben, in der Gesellschaft nicht mehr zu vernehmen ist?
Der britische Premierminister David Cameron schürfte am Donnerstag vor dem Unterhaus in seiner Analyse tiefer als die Abgeordneten. Die Kriminalität habe mit kulturellen Fehlentwicklungen zu tun, welche die Gewalt glorifizierten, Respekt und Verantwortung unterminierten und die Erziehung der Kinder vernachlässigten. Der Staat könne zur Reparatur der «zerbrochenen Gesellschaft» beitragen. Er müsse verantwortliches Handeln einfordern.
England ist eine stark säkularisierte Gesellschaft – seit Jahrhunderten Hort der Freidenkerei. Was in London, Birmingham und Manchester geschah ist nicht die Folge von zu viel Religion. Wie kommen wir zu Menschlichkeit und Respekt? Es ist schwer vorstellbar, wie sie ohne religiöses Werte-Fundament, ohne das öffentliche Engagement vieler religiöser Menschen und der Kirchen nachhaltig gefördert und gestärkt werden können.
Zum Thema:
Umstrittene 1. August-Botschaft von Abt Martin Werlen: «Kirche muss politisch sein!»
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch