Politik und Sozialdiakonie
Es gibt genügend Spielraum
Für Ursula Erni-Reusser, Gemeinderätin und Sozialvorsteherin von Spiez, gibt es viele Einsatzmöglichkeiten für Christen im Sozialbereich. Das beginne schon im alltäglichen Leben, etwa bei der Gastfreundschaft, sagt sie im Interview mit der Zeitschrift Bewegung Plus online.Frau Erni-Reusser, welche Art von Einsatz zum Wohl der Gesellschaft erwarten Sie von einer Kirche?
Ursula Erni-Reusser: Erfreut stelle ich fest, dass der Einsatz der Kirchen, welche ihre Türen für alle hilfesuchenden, in Not geratenen, einsamen Menschen öffnen, in der Gesellschaft respektiert und geschätzt wird. Es ist hilfreich, wenn die Kirche ihren Auftrag so versteht, dass sie die Menschen verantwortungsvoll begleitet und sie so fördert und fordert, dass sie möglichst ein eigenständiges und sinnerfülltes Leben führen können.
Welche Werte hat die Kirche, die unserer Gesellschaft helfen können? Wie kann sie diese vermitteln?
Indem das alltägliche Leben miteinander geteilt und gastfreundliche Gemeinschaft gepflegt wird. Dies lässt sich ganz praktisch im eigenen Haus, Quartier oder Dorf mit den Möglichkeiten z.B. eines Mittagstisches, von Aufgabenhilfe, Tagespflegeplätzen oder Besuchsdiensten umsetzen.
Wie viele christliche Werte wünschen Sie sich in der Politik, und welche?
Glaubwürdig gelebte christliche Werte wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Wertschätzung und Zielorientierung geben dem politischen Handeln die wegweisende Grundlage. Es ist entscheidend, dass die tiefen menschlichen Bedürfnisse wahrgenommen und Lösungen gesucht werden, die dem Wohl aller Menschen dienen. «Denn die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen» – diesem ethisch hohen Anspruch in der Bundesverfassung kann die Politik ohne den Einbezug der christlichen Werte wie Solidarität, Bescheidenheit und Frieden längerfristig nicht mehr gerecht werden. Zielführend und wertvoll erscheint mir auch, wenn Christen in diesem Sinne von ihrem politischen Recht bei Wahlen und Abstimmungen Gebrauch machen.
Wie sieht für Sie eine ideale Zusammenarbeit zwischen Politik und Kirche aus?
Der Auftrag und die Verantwortung zwischen Politik und Kirche ist unterschiedlich, lässt dadurch aber viel Spielraum offen für mögliche Formen der Zusammenarbeit. Eine gute Voraussetzung ist, wenn sich die Beteiligten in einer vertrauensvollen, wertschätzenden wie auch kritischen Haltung begegnen.
Persönlich habe ich mit verschiedenen Kirchen in meiner Wohngemeinde immer wieder gute Erfahrungen gemacht, indem wir über unsere Anliegen, Erwartungen und Wünsche offen austauschen konnten. Daraus haben sich viele erfreuliche und sinnvolle Möglichkeiten zur Zusammenarbeit ergeben.
Was sind die Besonderheiten der Politik, was die Besonderheiten der Kirche?
Die Politik ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass die Grundrechte eingehalten werden, damit wir in Freiheit zusammenleben können und der soziale Frieden und Ausgleich gewährleistet ist.
Die Kirche hat vor allem den Auftrag, das Evangelium zu verkünden, damit die Menschen Jesus persönlich kennen lernen. Denn er hat mit seiner vorbildlich gelebten Leidenschaft für die Menschen nichts an Bedeutsamkeit für die Gegenwart verloren.
Dieses Vorleben von Jesus gibt der Kirche und den Christen die wertvolle Grundlage zur Umsetzung eines vielfältigen sozialdiakonischen Auftrags. Gemäss Bonhoeffer liegt die Existenzberechtigung der Kirche geradezu darin, dass sie für andere da ist.
Wo gibt es Grenzen in der Zusammenarbeit zwischen Politik und Kirche?
Grenzen zeigen sich dort, wo gegenseitige Vorurteile nicht abgebaut werden können und die Akzeptanz fehlt. Chancen entstehen dort, wo das Gespräch gesucht wird, Zuständigkeiten und Rahmenbedingungen in der Zusammenarbeit geklärt und eingehalten werden.
Ist die Schweiz ein christliches Land oder ein säkulares Land mit historisch christlichen Wurzeln? Welche Rolle spielt die Kirche darin?
Ich freue mich darüber, dass in der Bundesverfassung «Im Namen Gottes des Allmächtigen» steht und dies ein eindeutiger Hinweis auf unsere historisch christlichen Wurzeln ist. Viele nachhaltige Errungenschaften im sozialen Bereich zeigen ein christlich diakonisches Wirken in der Vergangenheit auf (Aufbau von Schulen, Krankenpflege, Heime usw.). Der Staat hat fast alle Aufgaben übernommen, aber um die sozialen Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können, ist die Rolle der Kirche neu gefragt.
Ursula Erni-Reusser (50) wohnt in Spiez, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Die diplomierte Sozialmanagerin FSSM ist Gemeinderätin/Sozialvorsteherin (EVP) in Spiez.
Interview:
Markus Bettler
Webseite der Bewegung Plus
Autor: Markus Bettler
Quelle: BewegungPlus online