Pro und Kontra: Vor der Volksabstimmung über die AHV-Initiative
Pro: Endlich echte Chancengleichheit
Von Lilian Studer, Grossrätin EVP, Präsidentin Junge EVP, Wettingen
Chancengleichheit ist für mich ein wichtiger Faktor meiner Anliegen und Entscheidungen im politischen Alltag. Chancengleichheit bedeutet unter anderem eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen. Wie häufig wird es aber als Wort gebraucht, das gleich in Vergessenheit gerät, wenn es um die Ausführung geht. Als Christ sehe ich gerade darin meine Verantwortung, mich für diejenigen einzusetzen, die am wenigsten Gehör bekommen. Auch wenn es bedeutet, Abstriche machen zu müssen.
Abstriche in Kauf nehmen
Die Volksinitiative für ein flexibles AHV-Alter hat mit Abstrichen, aber eben auch mit Chancengleichheit und dem Solidaritätsgedanken zu tun. Um was geht es dabei? Das starre AHV-Alter (64/65) soll gelockert und die AHV ab dem Alter von 62 Jahren ohne Rentenkürzung möglich werden. Dabei darf das Einkommen von monatlich 9160 Franken nicht überschritten sein. Mit dieser Initiative sollen also Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen die Möglichkeit haben, frühzeitig in Rente zu gehen. Das bedeutet Abstriche: Die Auslastung der AHV-Kasse wird tangiert, 0,4 Prozent mehr Lohnabzug wird notwendig sein, und auf Grund der demografischen Entwicklung muss die zukünftige Finanzierung der AHV weiter gesichert werden. Die Babyboom-Jahrgänge kommen ins AHV-Alter, was zu Mehrausgaben führt. Hingegen gibt es weniger Nachwuchs, der die AHV mitfinanziert. Es gilt also Abstriche in Kauf zu nehmen, von denen wir alle betroffen sind, während nur ein Teil davon profitieren wird.
Heute profitieren Vermögende
Tatsache ist aber, dass heute Arbeitende, die es sich leisten können, die Möglichkeit haben, frühzeitig ihre Rente zu beanspruchen. Für kleinere und mittlere Einkommen ist dies ein Problem. Speziell betroffen sind ältere Erwerbstätige mit gesundheitlichen Beschwerden, denen eine Weiterarbeit nicht zugemutet werden kann. Sowie ältere Menschen, die es allgemein auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, und zusätzlich doch immer wieder zum Opfer von Zwangspensionierungen werden, wo sie unfreiwillig eine Rentenkürzung hinnehmen müssen. Auch ältere und wirtschaftlich weniger leistungsfähige Menschen brauchen die Möglichkeit und eben die Chancengleichheit einer flexiblen Pensionierung.
Versprechen nicht eingehalten
Das Anliegen ist nicht neu. Seit langem wird vom Bundesrat und vom Parlament versprochen, ein soziales flexibles Rentenalter einzuführen. Doch immer, wenn es konkret werden sollte, wurde dieses Versprechen nicht eingehalten.
Unter anderem wurde die 11. AHV-Revision im Mai 2004 vom Volk auch darum nicht angenommen. Dem Versprechen einer Flexibilisierung war man auch da nicht nachgekommen. Die Frage, die wir uns bei unserer Entscheidung gegen oder für die AHV-Initiative also stellen müssen, lautet somit nicht: Wollen wir ein anderes Flexibilisierungssystem, sondern: Wollen wir überhaupt ein Flexibilisierungssystem oder keines?!
Kontra: Eine völlig falsche Stossrichtung
Werner Messmer Nationalrat FDP, Kradolf TG
Die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes will allen Personen mit einem jährlichen Erwerbseinkommen unter 119?340 Franken eine ungekürzte AHV-Rente ab dem 62. Altersjahr gewähren. So verständlich und reizvoll diese Initiative daherkommt, so unvernünftig und scheinheilig ist sie. Denn wer die Zahlen konsultiert, welche dieser Initiative zu Grunde liegen, stellt problemlos fest, dass es gar nicht um die Flexibilisierung des Rentenalters geht. Über 98 Prozent aller erwerbstätigen Frauen und 85 Prozent aller erwerbstätigen Männer erfüllen nämlich die Bedingung der Initiative, verdienen also weniger als die rund 120 000 Franken.
Reine Augenwischerei
Somit ist der ideologische Hintergrund der Initiative klar erkennbar. Der Vorwand einer Flexibilisierung ist reine Augenwischerei, denn es geht um nichts anderes als um eine Senkung des Rentenalters von 65 auf 63 Jahre.
Warum aber ist die Senkung des Rentenalters eine völlig falsche Stossrichtung?
- Die demographische Entwicklung der Bevölkerung geht gerade in die andere Richtung.
- Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich, die Geburten sind rückläufig.
- Immer weniger Erwerbstätige finanzieren immer mehr Rentner. Kurz nach der Gründung der AHV im Jahr 1950 arbeiteten sechs Personen für einen AHV-Bezüger. Heute sind es noch 3,6, und im Jahre 2035 werden noch zwei Erwerbstätige auf einen AHV-Bezüger fallen.
- Wir erreichen heute das AHV-Alter bei immer besserer Gesundheit und haben eine immer höhere Lebenserwartung.
Diese Entwicklung verbietet also geradezu eine Senkung des Rentenalters. Die Förderung der Frühpensionierung würde zudem die ohnehin schon absehbare Verknappung des Arbeitskräfteangebots weiter verschärfen, was der längerfristigen Entwicklung unserer Volkswirtschaft enormen Schaden zuführt.
Allfällige Beschäftigungsprobleme über eine grosszügige Regelung der AHV angehen zu wollen, ist der falsche Ansatz. Vielmehr muss der Verbleib von Menschen zwischen 60 und 70 in der Arbeitswelt mit personalpolitischen und sozialpolitischen Massnahmen gefördert werden.
Frühere Pensionierung möglich
Aber auch von der finanziellen Seite her ist eine Annahme dieser Initiative nicht zu verantworten, entsteht doch zusätzlich ein Bedarf von 1,3 Milliarden Franken mehr an Einnahmen. Das müssen wir Steuerzahler aufbringen, entweder über höhere Lohnprozente, was den Standort Schweiz und unsere Produktion noch teurer macht, oder über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Auch das ist nichts anderes als eine Steuererhöhung.
Wer es wünscht, kann sich heute schon zwei Jahre früher pensionieren lassen, allerdings mit einer gerechten Anpassung der Rente. Es ist auch möglich, die Rente fünf Jahre hinauszuschieben. Also Flexibilität genug! Weitergehende Lösungen sind zwischen den Sozialpartnern zu suchen (Beispiel Bauwirtschaft) und nicht staatlich zu verordnen.
Kommentar
Worauf ist noch Verlass?
Von Sam Moser
Peter Sloterdijk, der in Karlsruhe Philosophie lehrt, schreibt in seinem Buch «Im Weltinnenraum des Kapitals»: «Die Wahrheit ist, dass sich das Geld längst als operativ erfolgreiche Alternative zu Gott bewährt hat. Dieses tut heute für den Zusammenhang der Dinge mehr, als ein Schöpfer Himmels und der Erde leisten könnte.» Das war im Jahre 2003. Inzwischen hat sich durch die Turbulenzen auf den Finanzmärkten die politische Grosswetterlage grundlegend verändert. Eine weltweite Rezession zeichnet sich ab. Jedermann ist empört über die Kasino-Kapitalisten und die unverschämten Boni-Kassierer. Die verunsicherten Sparer fürchten um ihre Einlagen. Bei den Pensionskassen geht es ans Eingemachte. Vorbei ist die Sorglosigkeit! Die Macht des Geldes «als operative erfolgreiche Alternative zu Gott» hat sich als Popanz, als vermummte Schreckgestalt entpuppt.
In dieser Situation werden wir als verunsicherte Bürger und Bürgerinnen zur Urne gerufen, um über die AHV-Initiative des Gewerkschaftsbundes abzustimmen. Es geht um die Frage, ob Normalverdienende ab 62 Jahren frei entscheiden können, mit der Berufsarbeit aufzuhören – und zwar ohne Rentenkürzung. Es geht um eine wichtige, umstrittene Sachfrage, die auch unter dem Gesichtswinkel guter Haushalterschaft geprüft werden muss.
Mich beschäftigt eine noch wichtigere Frage: Worauf ist eigentlich noch Verlass? Ich fürchte, dass wir die Fähigkeit verloren haben, in der Vertikalen zu antworten. Die Macht des Geldes hat einen «Mangel an Definitivem im Zentrum unserer Seelen» (Benedikt XVI) erzeugt. Wir haben das trügerische Vertrauensspiel mitgemacht und versucht, unsere Schätze in irdische Scheunen einzubringen. Dabei müssten wir längst wissen, dass es unmöglich ist, Gott und gleichzeitig auch dem Mammon zu dienen.
Es gibt die berühmte Geschichte vom Theaterbrand. Panik griff um sich, das Publikum wurde zum Mob. Da lief in grossen Sätzen ein riesiger Mann mit Bart durch den Orchesterraum auf die Bühne und rief: «Jedermann nehme wieder seinen Platz ein!» In Stimme und Gebaren lagen solch starke Autorität, dass jedermann gehorchte. Daher kamen alle in den Flammen um, während der Bärtige ruhig durch die Kulissen zum Bühnenausgang schritt, eine Droschke bestieg, heimfuhr und zu Bett ging. (C.S. Lewis in «Die letzte Nacht der Welt»)
Das Vertrauen in das globale Finanzsystem ist verloren gegangen. Das Vertrauen in selbstsicher auftretende «Bärtige» ist nachhaltig erschüttert. Deshalb gibt es nur eines: «Zurücklaufen zu den Verheissungen Gottes» (Martin Luther). Er allein kann den «Mangel an Definitivem im Zentrum unserer Seelen» ausfüllen. Denn: «Es ist besser, bei dem Herrn Schutz zu suchen, als mit denen zu rechnen, die mächtig und einflussreich sind» (Die Bibel, Psalm 118, Vers 8).
Artikel zum Thema:
Was wirtschaftlich engagierte Christen zur AHV-Initiative meinen: «Dann sind die Werke sowieso pleite…»
Quelle: ideaSpektrum Schweiz