Nationalrat Christian Lohr
«Meinen Eltern hätte man zur Abtreibung geraten»
Trotz Handicap glücklich und motiviert: Nationalrat Christian Lohr begrüsst mit seinem rechten Fuss die Besucher. Als Journalist schreibt er auch seine Artikel auf dem Computer auf diese Weise.
Nationalrat Christian Lohr, ohne Arme und mit missgebildeten Beinen geboren, ist besorgt. Mit dem neuen Bluttest zur Erkennung von Trisomie 21, der letzte Woche in der Schweiz eingeführt wurde, werde der Druck zur Abtreibung zunehmen, befürchtet er. Seinen Eltern wäre damals wohl zur Abtreibung geraten worden, vermutet Lohr. Im Interview mit ihm kommt zum Ausdruck, dass man auch mit Behinderung zufrieden leben kann.Andrea Vonlanthen: Worüber haben Sie sich heute Morgen schon gefreut?
Christian Lohr: Mich freut jeder neue Tag, an dem ich gesund aufstehen kann! Mich freut, dass mein neu installierter Computer heute Morgen plötzlich funktioniert, nachdem das gestern noch nicht der Fall war. Ich bin auf dieses Hilfsmittel angewiesen, es erleichtert mir mein Leben.
Wann wurde Ihnen Ihre Behinderung erstmals richtig bewusst?
Das war schon im Kindesalter, als ich beim Spielen eingeschränkt war. Parallel zur Einschränkung gab es für mich aber immer auch die Erkenntnis, dass ich ganz andere Potenziale habe. Das geht mir bis heute so. Ich nehme immer beide Seiten wahr: die Einschränkung und die Potenziale. Das hat mir wohl auch zu einem starken inneren Gleichgewicht verholfen. Auf eine Art empfinde ich die Behinderung deshalb auch als Privileg.
Ein Privileg?
Mit einer Behinderung leben, mit einer besonderen Lebenssituation fertig werden – das schaffe ich nicht trotz Behinderung, sondern mit Behinderung. Ich kämpfe nicht gegen meine Behinderung. Mein Privileg ist, dass ich in meiner Behinderung den Sinn meines Lebens sehe. Ich stehe nicht jeden Tag auf und überlege mir, welches nun der Sinn meines Lebens sein könnte.
Worin sehen Sie den Sinn?
Ich will den Menschen unserer Gesellschaft zeigen, dass auch ein Leben mit Behinderung ein würdiges Leben sein kann. Ich will gerade Menschen mit einem Handicap Mut machen. Ich darf in meinem Leben viel Glück empfangen, und ich möchte etwas von diesem Glück weitergeben. Ich bin auch bewusst mit Gottvertrauen unterwegs.
Wie oft haben Sie mit Gott gehadert?
Ich habe nie mit Gott gehadert, aber ich habe natürlich als Kind oft mit meinen Eltern darüber gesprochen, warum gerade ich so behindert bin. Ich finde diese Frage sehr wichtig. Auch Zweifel sind wichtig, denn sie können helfen, zu einer klareren Sicht zu kommen. Letztlich hat meine Behinderung ja eine klare Ursache. Sie ist auf Medikamente mit dem Wirkstoff Thalidomid zurückzuführen. Meine Mutter erhielt diese Medikamente während der Schwangerschaft gegen Keuchhusten.
Ich durfte jedoch erkennen, dass mir Gott eine klare Lebensaufgabe gegeben hat. So konnte ich auch meine Behinderung annehmen. Ich bin heute zum Beispiel regelmässig in Konfirmandenklassen und an andern kirchlichen Anlässen, um über mein Leben zu reden und zu zeigen, was mir an jedem neuen Tag von Gott geschenkt wird, aber auch von Mitmenschen.
Wir dürfen Gott um alles bitten, sagt die Bibel. Worum bitten Sie ihn?
Ich bitte ihn um Kraft für den Alltag und um Liebe für meine Mitmenschen, aber auch um Achtung für seine Schöpfung. Ich bitte auch um Weisheit. Ich möchte zuerst überlegen, bevor ich etwas mache, damit ich mir bewusst werde, welches die Konsequenzen sein können.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie vom neuen Bluttest zur Erkennung von Trisomie 21, dem sogenannten Down-Syndrom, hören?
Durch meine Lebenserfahrung berührt mich das Thema stark. Als Betroffener und als Politiker spüre ich, dass ich klar Stellung beziehen muss. Es geht um ein Bekenntnis zu den Menschen mit einem Handicap, um Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft. Ich will mich dafür einsetzen, dass sie so, eben als Mitmenschen mit besonderen Bedürfnissen, wahrgenommen werden. Dann ist es klar, dass ich als Nationalrat auch politisch aktiv werden muss.
Wo sehen Sie die Problematik des neuen Trisomie-Tests?
Hier wird ein Bluttest eingeführt, ohne dass man sich über die Auswirkungen vertieft Gedanken gemacht hat. Ich wehre mich nicht gegen die wissenschaftliche Forschung. Wenn sie eine Optimierung zur Verhinderung von schweren Krankheiten erreichen kann, bin ich sofort dafür. Doch ich wehre mich ganz klar dagegen, dass Menschen mit einem möglichen Handicap schon vor der Geburt aussortiert werden. Und ich wehre mich gegen eine Entwicklung, die den Leuten nur noch makellose Katalogkinder verspricht.
Sie befürchten, dass der Test zu mehr Abtreibungen führen wird?
Das ist für mich ganz klar. Für schwangere Frauen, die aufgrund solcher Tests mit einem behinderten Kind rechnen müssen, wird der Druck zur Abtreibung eindeutig grösser werden.
Wie hätten Ihre Eltern wohl reagiert, wenn die pränatale Diagnostik vor 50 Jahren schon derart aktuell gewesen wäre?
Ich vermute stark, dass man meinen Eltern zur Abtreibung geraten hätte. Das wäre eine schlimme Entscheidung gewesen, das will ich mit aller Deutlichkeit sagen! Denn ich kann auch mit meiner Behinderung glücklich, zufrieden und motiviert leben.
Wie haben Ihre Eltern nach Ihrer Geburt reagiert?
Natürlich war es ein Schock für sie. Doch meine Eltern wollten mich als Wunschkind annehmen, auch meine Behinderung. Meine Behinderung wurde zu einer besonderen Lebensaufgabe für sie. Liebe und Kraft für mich schöpften sie nicht zuletzt aus ihrem Glauben. Ich war für sie nie einfach ein negatives Schicksal.
Wie erhalten Sie sich Ihren Optimismus?
Durch ein bewusstes Leben. Ich sage mir jeden Abend: Ja, ich habe heute bewusst gelebt. Zwar ist der Zeiger der Lebensuhr wieder um einen Tag vorwärts gegangen. Ich habe Schwächen und Stärken in den Tag eingebracht. Doch ich sage mir, dass ich wieder einen sinnvollen, lebenswerten Tag verbringen durfte.
Das ausführliche Interview mit Christian Lohr kann bei «Idea Spektrum Schweiz» in der 34 Ausgabe 2012 nachgelesen werden.
Behinderte erzählen aus ihrem Leben
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz
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