Gefängnisseelsorge

«Die Haft ist eine Chance der spirituellen Erfahrung»

In Strafanstalten sitzen mehr Männer als Frauen ein. So bedeutet Gefängnisseelsorge meist Männerseelsorge. Da kann Stefan Gasser-Kehl, erfahrener Männer-Coach aus Luzern, seine Kompetenzen einbringen.

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Stefan Gasser-Kehl am Eingang der Strafanstalt in Zug
Warum werden Männer leichter zu Verbrechern?
Stefan Gasser-Kehl: Ich bin kein Kriminologe. Aber es ist eine Tatsache, dass viel mehr Männer in Gefängnissen sind als Frauen. Dabei wird leicht übersehen, dass auch die meisten Gewaltopfer Männer sind.

Wie kommt das?
Wir müssen nach Altersgruppen differenzieren: Die meisten Männer, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, sind jünger als 30 Jahre alt. Das ist eine schwierige Zeit für junge Männer. Sie passen sich ihrer Peergroup (Gleichrangige, Gruppe mit gemeinsamer Ausrichtung) an, das kann mit Alkohol und Drogen einhergehen.

Dazu kommt die Lust, Grenzerfahrungen zu machen, körperlich, Geschwindigkeit, mit dem Auto. In ihrer Gruppe erfahren sie Gewalt und üben Gewalt aus. Es entsteht ein Kreislauf, Opfer und Täter zugleich zu sein. Schnell sind wir bei Körperverletzungen, mit dem Resultat, dass sie am Schluss im Gefängnis sitzen.

Das lässt in anderem Alter nach?
Ja, bei den straffällig gewordenen Männern der mittleren Altersphase steht eher der Druck im Hintergrund, den Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Da geht es um Wirtschaftsdelikte wie Betrug. Oder wenn es um Drogen geht, dann finden wir hier die Händler. Senioren im Konflikt mit dem Gesetz gibt es ganz selten.

Welche Männer treffen Sie an?
Den grösseren Teil meiner Arbeitszeit bin ich im Untersuchungsgefängnis präsent. Ich treffe dort oft auf unsichere, ängstliche junge Männer. Ich treffe auf immens viel Vaterlosigkeit, und die hat unter anderem fragile, brüchige Identitäten zur Folge.

Was ist in der U-Haft anders?
In Zug sind in der U-Haft die Insassen sehr viele Stunden allein in der Zelle. Oft gibt es keine Telefonbewilligung. Die jungen Männer sind viel auf sich zurückgeworfen, allein und zugleich ohnmächtig, total abhängig. Letzteres passt nicht zur gelernten traditionellen männlichen Identität «ich brauche keine Hilfe, ich komme allein zurecht». Die Situation in der U-Haft führt dazu, dass sich die Männer entweder verschliessen – oder sich öffnen und Angebote, wie die Gespräche mit mir, annehmen.Im Schnitt wünschen drei von vier U-Häftlingen meinen Besuch, im Vergleich zur offenen Gesellschaft eine sehr hohe Zahl. Bei den meisten kommt es zu einer längeren Begleitung. Zugute kommt mir in Zug die Niedrigschwelligkeit – ich kann mich im Haus frei bewegen, an die Zellentüren klopfen, mich vorstellen und auf mein Angebot hinweisen. 

Welche Kompetenzen an Männerspiritualität können Sie einbringen?
Das ist vielfältig. Grundsätzlich sind Aufmerksamkeit, Zuwendung, Zuhören das Kapital der Seelsorge. Und das führt zum Stichwort «Vaterlosigkeit»: Manchmal sagen mir junge Männer: «Sie sind der erste erwachsene Mann, mit dem ich reden kann.» Ich selbst habe in der Kirche gute Erfahrungen mit männlichen Mentoren gemacht. Ich weiss aber auch von der christlichen Religion, dass sie viel von «Gott Vater» redet, dazu aber wenig seelische Nahrung geben kann.

Was tun Sie konkret?
Ich versuche in den Gesprächen den Mangel an väterlichem Rückgrat (wegen der Abwesenheit des Vaters oder Konflikten mit ihm) anzugehen und die positiven Ressourcen der Person zu würdigen.

Das Gefängnis ist ja ein System, welches das Defizit betont. Es reduziert die Person fast ausschliesslich auf das begangene Verbrechen. Das Verbrechen wird auch bei mir nicht verharmlost. Aber meine Aufgabe ist das Mentoring: die Fähigkeiten, die Kräfte, die Ausstrahlung, die Präsenz oder positive Entwicklung einer Person anzusprechen. Das ist im Kern Männerarbeit, wie eine Art väterlicher Segen.

Eigentlich etwas völlig Normales?
Ich habe immer die Klarheit und Kraft der Frauen in der feministischen Theologie bewundert. Aber wir als Männer? Ich pflege eine Spiritualität, die den Körper integriert. Sie kann eine Brücke zum Trend Krafttraining im Gefängnis bilden. Ich schaue ab und an im Kraftraum vorbei.

Wir brauchen Initiationsriten, die Veränderung von ungeschriebenen Männergesetzen wie «Du darfst nicht schwach sein». Wie oft sagen mir Strafgefangene: «Meine Familie schämt sich für mich.» Die Scham aushalten, da braucht es Unterstützung. Es sind Grenzerfahrungen. Wer bin ich, wenn ich am Limit bin? Habe ich Vertrauen auf eine grössere Kraft? Wie ist es, wenn ich ganz allein bin?

Bewusst spreche ich die Sehnsucht nach Vaterpräsenz an und greife Jesu Vaterbeziehung auf: das Füllen des Vakuums mit der göttlichen Liebe.

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Die Haft – eine erzwungene Auszeit oder gar religiöse Chance?
Natürlich ist das Grundbedürfnis der Gefangenen, wieder rauszukommen. Oder in der U-Haft Informationen zu bekommen über ihre Situation, mit was sie rechnen müssen, wie lange es noch geht. Oder reden zu können. Oder gestehen zu können und Erleichterung zu finden. Gerade Wirtschaftskriminalität: Da haben sich manche in unerträgliche Situationen manövriert. Aus meiner Sicht sind übrigens viele Untersuchungshäftlinge geständig!

Aber zurück zur spirituellen Ebene: Die Haft kann bewirken, dass ich mich nicht im Aussen, in den Zerstreuungen, abreagieren kann, sondern ganz auf mich zurückgeworfen bin. Ja, das ist auch eine Chance der Selbsterfahrung, eventuell auch der spirituellen Erfahrung.

Sollte dann nicht die Seelsorge über die Gefängniszeit hinausgehen?
Nein, die Gefängnisseelsorge gehört zur Zeitspanne des Gefängnisaufenthalts und ist mit dieser auch zurückgelassen. Sie will von beiden Seiten nicht weitergehen. Ich kann für draussen Anlaufstellen vermitteln.

Wie sehen Sie das Recht auf Beziehung im Strafvollzug?
Sollen Gefangene «zölibatär» leben? Bei den Diskussionen stimme ich voll und ganz zu, dass auch Strafgefangene das Recht auf eine Beziehung haben. Im Bostadel gibt es ein Beziehungszimmer, wo sich Strafgefangene unter gewissen Voraussetzungen anmelden können. Auch für Strafgefangene gilt: Es ist gut, wenn Menschen für ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse einstehen.

Welche besonderen Bedürfnisse haben ältere Strafgefangene?
Bei älteren Männern spielen natürlich auch im Gefängnis Fragen von Gesundheit eine immer grössere Rolle. Bei Männern mittleren Alters, besonders bei denen mit Familie, steht oft im Mittelpunkt, wie sie weiterhin im Kontakt mit den Kindern bleiben und wie sie deren Besuch gestalten können. Hier taucht wieder die Frage der väterlichen Identität auf.

Der Artikel erschien im Pfarreiblatt Luzern, Ausgabe 8/2018. Der Autor Andreas Wissmiller ist Redaktor beim Pfarreiblatt.

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Datum: 19.04.2018
Autor: Andreas Wissmiller
Quelle: Pfarreiblatt Luzern / kath.ch

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