Das eigene Potenzial entdecken
Rolf Lindenmann: Ich weiss es nicht, aber ich kann mir zwei grundsätzliche Wege vorstellen: Erstens, man hat das Bedürfnis und probiert es. Zweitens, man wird mehr und mehr gefragt, kommt immer mehr ins Beraten hinein und merkt plötzlich, dass man es ist.
Wie ist das bei Ihnen abgelaufen? Sie haben sicher auch einen persönlichen Weg zurückgelegt, bis Sie immer öfter um Rat gefragt wurden.
Ich wurde zuerst als Studenten- und Schülerberater angestellt. Da stand das Beraten noch nicht im Vordergrund, sondern das Näherbringen des Glaubens an Jesus Christus, das Organisieren von Ferienwochen usw. Da geschah es immer häufiger, dass sowohl jüngere wie auch bestandenere Leute mich ansprachen, wenn sie bestimmte Lebensfragen hatten und wichtige Entscheidungen treffen sollten. Später wurde das Beraten zu meinem Beruf.
Wie kam es, dass Sie Studentenberater wurden?
Ich begann als Mittelschüler, mich mit dem christlichen Glauben auseinander zu setzen. Ein Kollege in meiner Klasse forderte mich dazu heraus. Er wollte unbedingt mit mir die Bibel lesen, und ich reagierte vorsichtig positiv darauf, ohne genau zu wissen, worauf ich mich einliess. In der Folge fand ich zum Glauben an den dreieinigen Gott, und dies löste eine neue Motivation in mir aus.
Was war das auslösende Moment, dass Sie sich auf den Glauben einliessen?
Mich hat betroffen gemacht zu erkennen, dass Jesus Egoisten liebt. Mir war klar, dass ich ein Egoist war. Dass Jesus für solche Menschen sein Leben gegeben hat, hat mich unwahrscheinlich berührt.
Muss man als Christ Altruist sein?
Das ist nicht die Voraussetzung, aber wenn die voraussetzungslose Liebe Gottes mich bewegt, beginne auch ich zu lieben. Es ist wie ein Strom, der weiter fliesst. Liebe ist nicht die Bedingung, sondern die Folge davon, geliebt zu werden.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie eine Begabung haben, Menschen zu beraten? War es ein Erfolgserlebnis?
Ich kenne kein bestimmtes Erfolgserlebnis; ich war nicht sehr selbstbewusst und hatte auch nicht das Gefühl, dass ich viel zu sagen hätte.
Ich wurde allenfalls darin bestätigt, indem zunehmend Menschen zu mir sagten, ich hätte ihnen mit meinem Rat geholfen. Sie nannten mir dabei Gesprächssituationen, an die ich mich oft gar nicht mehr erinnerte. Ich merkte auch, dass ich innerlich sehr engagiert war, wenn ich Gelegenheit hatte, mit Menschen über ihre Fragen zu reden.
Muss man Menschen lieben, wenn man sie echt beraten will?
Ich denke schon, und es braucht dazu ein weites Herz. Allerdings habe ich dieses auch nicht von Natur aus. Ich habe vielmehr realisiert, dass Gott die Menschen in ihrer Verschiedenheit akzeptiert und sie liebt, auch in ihren Unmöglichkeiten, auf die man sich sonst gar nichts so gerne einlässt. Es braucht ein ganzes Ja zu den Menschen und für die vielen verschiedenen Lebenssituationen. Es braucht sogar eine Faszination für die Menschen.
Braucht es eine Berufung? Kann eine Berufung auch wachsen?
Berufen sein ist etwas sehr Grundsätzliches. Vielleicht hatte ich diese Berufung schon immer. Es gibt eine Berufung zum Menschsein, die wir alle haben. Es gibt spezielle Berufungen, die mehr sind als ein Beruf. Zu einer Berufung kommt man durch drei Schritte: entdecken, entwickeln, ermutigen. Persönlich bin ich ein Entdecker, und das Entwickeln liegt mir im Blut. Im Laufe meines Lebens habe ich diese Berufung immer mehr entdeckt und sie für mich bestätigt.
Gibt es Spezialgebiete und Schwerpunkte, auf die sich Ihre Beratungstätigkeit hin entwickelt hat?
Mein Fachgebiet ist ja die Biologie, und Biologie ist die Lehre vom Leben. Mir geht es immer ums Leben, d. h. um aktuelle Lebensfragen. Mir ist aufgefallen, dass Menschen, seien sie nun Manager oder Familienfrauen, immer die gleichen Grundfragen haben: Wie lebe ich mit meinen Möglichkeiten und meinen Begrenzungen in der aktuellen Lebenssituation? Wie bringe ich meine Stärken auf die Schiene, wie kann ich meine Schwächen so annehmen, dass sie sogar zu Stärken werden? Wie kann ich entscheidungsfähiger und beziehungsfähiger werden?
Können Sie auch Menschen helfen, Ressourcen zu entdecken, auf die sie noch gar nicht gestossen sind?
Ja, besonders reizvoll finde ich es, aus missratenen Karrieren heraus das Potenzial zu entdecken. Unsere grössten Stärken sind ja oft auch am meisten verzerrt. Oft merken Menschen, dass gerade in dem, was ihnen Probleme macht, noch etwas Gutes steckt. Überkritische Menschen und Nörgler können z. B. merken, dass sie eine analytische Gabe besitzen, die sie zum Nutzen anderer einsetzen könnten. In vielen Eigenschaften liegt ein Potenzial, wenn die Gabe richtig eingesetzt wird.
*Rolf Lindenmann (65) war nach seinem Biologiestudium und dem Doktorat zuerst in der Krebsforschung tätig. 1972 wurde er in die VBG-Arbeit berufen. Zuerst hauptsächlich in der Studierendenarbeit tätig, wurde er 1983 VBG-Präsident und 1987 Generalsekretär. 1996 trat er aus der Leitung zurück und konzentrierte sich auf die Beratung und das Coaching. Kontakt: Dr. Rolf Lindenmann, Limmattalstr. 53, 8049 Zürich, 01 342 14 58 (F). rolf.lindenmann@bluewin.ch.
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Jesus.ch