«Ohne Glauben wäre ich nicht der Adolf Ogi, der ich heute bin»
Chrischona-Magazin: Herr Bundespräsident, mit welchen Gefühlen gingen Sie am 18. Oktober an die Medienkonferenz, an der Sie Ihren Rücktritt bekanntgaben?
Adolf Ogi: Mit einem Gefühl der Erleichterung und der Befriedigung! Erleichterung darüber, dass der Entscheid zum Rücktritt nach langen Überlegungen gefällt war und dass ich die grosse Verantwortung nach 13 Jahren im Amt abgeben kann. Befriedigung deshalb, weil ich das Gefühl habe, dem Land in all diesen Jahren mein Bestes gegeben zu haben.
Wie ging Ihre Familie mit der Tatsache um, dass Sie als ausserordentlich stark belasteter Bundespräsident nur selten zu Hause waren?
Es ist in der Tat so, dass wir uns weniger häufig sahen als das in einer Schweizer Durchschnittsfamilie der Fall ist. Meine Frau und meine beiden inzwischen erwachsenen Kinder haben zwar ausserordentlich viel Verständnis für meinen Beruf gezeigt und mich mitgetragen. Aber natürlich litten sie auch darunter, vor allem dann, wenn ich in den Medien angegriffen wurde und der Name Ogi auf allen Kiosk-Plakaten stand... Das grösste Kompliment gilt meiner Frau, die bei der Erziehung der Kinder die Hauptverantwortung getragen hat.
Von China bis New York, von Rom bis Sydney: Sie waren in diesem Jahr auf Reisen wie kaum ein anderer Bundespräsident vor Ihnen. Was treibt Sie?
Ich bin eingeladen worden! Von der chinesischen Führung nach Peking, vom UNO-Generalsekretär an den Millenniumsgipfel in New York, vom Papst nach Rom. Und als wir im Bundesrat über die Delegation für die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Sydney diskutierten, fiel die Wahl eben auf den Sportminister. Da die Schweiz nicht in der EU und nicht in der UNO ist, sind solche Kontakte sehr wichtig. Wir laufen sonst Gefahr, dass man uns gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Welches Schweiz-Bild wollten Sie auf diesen Reisen vermitteln?
Ich habe am «Schweizer Tag» der «Expo» in Hannover das Bild von der «etwas anderen Schweiz» gebraucht. Die Schweiz jenseits des Clichés «Berge-Uhren-Käse». Die moderne, weltoffene, sinnliche, kreative, gastfreundliche Schweiz, die auf vielen Gebieten Spitzenleistungen erbringt: in der Forschung, in der Architektur, in der Kultur. Die Schweiz der Weltraum- und Ballonfahrer Nicollier und Piccard, der Plastiker Tinguely, Luginbühl und Bill. Die Schweiz der vier Kulturen, der vier Sprachen, der 26 eigenständigen Kantone. Die Schweiz des gelebten Föderalismus, der gelebten Subsidiarität, der religiösen Toleranz.
Doch die Schweiz will nicht in die EU, nicht in die NATO, vermutlich auch nicht in die UNO, und viele Schweizer sträuben sich gegen bewaffnete Auslandeinsätze. Wie offen ist unser Land wirklich?
Ich sehe das nicht so negativ! Die Schweizerinnen und Schweizer haben sich nach langen und emotionalen Abstimmungskämpfen deutlich für die Bilateralen Verträge mit der EU und ebenso deutlich gegen die 18-Prozent-Initiative, die eine Begrenzung der Zahl der Ausländer wollte, ausgesprochen. Ich bin zuversichtlich, dass sie 2002 im zweiten Anlauf dem UNO-Beitritt zustimmen werden. Es ist die einzige weltumspannende Organisation, der ausser dem Vatikan nur die Schweiz nicht angehört. Wir bezahlen jedes Jahr über 500 Millionen Franken und sind in den Unterorganisationen (Unesco, UNHCR, WHO usw.) sehr aktiv. Also sollten wir doch auch in der Vollversammlung mitreden können. Zuversichtlich bin ich auch für den Referendumskampf über die Teilrevision des Militärgesetzes, der beide Kammern des Parlamentes deutlich zugestimmt haben. Unsere Umfragen zeigen eine deutliche Zustimmung zu friedenserhaltenden Einsätzen im Ausland und eine ebenso deutliche Zustimmung zur Bewaffnung unserer freiwilligen Soldatinnen und Soldaten zum Selbstschutz.
Dauerkritik an der «Expo.02», Nein zu einer Energiewende, Wertezerfall auf einer breiten Ebene: In welcher Verfassung ist unser Land heute?
Auch hier malen Sie mir zu schwarz. Die «Expo.02» ist ein derart ambitiöses Unternehmen, dass es ohne Probleme, Krisen und Rückschläge gar nicht gehen kann. Das war bei der «Expo 64» nicht anders. Mit Rückschlägen in Volksabstimmungen müssen wir rechnen. Sie zwingen uns, neue, andere Lösungen zu suchen. Statt von Wertezerfall spreche ich von Wertewandel. Die Autoritäten von einst gibt es so nicht mehr: den Pfarrer, den Lehrer, den Polizisten, den Oberst. Die traditionelle Familie mit Mutter, Vater und Kindern gibt es zwar noch, aber immer mehr Erwachsene und Kinder leben in Familien, die «zusammengewürfelt» sind. Auch in diesen Familien kann man Glück und Geborgenheit finden. Viele Menschen leben heute «kurzfristiger», sie halten sich nicht mehr an Schemen. Sie gehen am Dienstag ins Opernhaus und am Samstag an die Street-Parade. Diese gesellschaftlichen Realitäten soll man nicht bedauern oder verurteilen. Nehmen wir sie positiv an! Wirtschaftlich und politisch geht es unserem Land gut, ja sehr gut! Der Aufschwung ist da. Die Wirtschaft hat viele neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosigkeit liegt unter zwei Prozent. Das Volk hat Vertrauen in die Behörden. Die Resultate der Abstimmungen zeigen dies immer wieder.
Ihr Ausspruch «Freude herrscht» ist unterdessen legendär. Wo herrschte in diesem Jahr beim Bundespräsidenten wenig Freude?
Sorgen machen mir und dem Bundesrat die rechtsextremen Tendenzen und Erscheinungen. Ich finde es skandalös, dass Skinheads auf dem Rütli die Augustansprache meines Kollegen Kaspar Villiger störten. Es kann doch nicht sein, dass eine Ideologie, welche im letzten Jahrhundert die Welt in den Abgrund stürzte, heute bei jungen Schweizerinnen und Schweizern wieder salonfähig ist.
Dem Walliser Olympia-Projekt galt Ihre ganze Leidenschaft. Wie haben Sie sich nach dem Nein zu «Sion 2006» aufgefangen?
Für die Schweizer Delegation in Seoul kam der Entscheid für Turin nicht derart aus dem heiteren Himmel wie für die Fernsehzuschauer hier in der Schweiz. Aber wir waren natürlich tief enttäuscht, denn wir hatten monatelang mit Herzblut gekämpft, und es war uns gelungen, gegen 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer vom Projekt zu überzeugen. Ich habe mich rasch wieder aufbauen können. Das begann schon in Kloten, wo mich meine 20 engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Flugzeug mit einem Ständchen des Armeespiels empfingen. Und bald realisierte ich, dass wir nicht an unserem ausgereiften Projekt gescheitert waren, sondern an vielen, teilweise politischen Kriterien, auf die wir gar keinen Einfluss hatten.
Hand aufs Herz: Gab es auch Situationen, in denen Ihre Freude nur gespielt war?
Natürlich kann man Optimismus auch etwas schauspielern, aber das kommt bei mir sehr selten vor. Ich bin nun einmal von Grund auf ein unverbesserlicher Optimist. Ich habe die Menschen gern und gehe auf sie zu.
Anfang Jahr haben Sie vor der Kirche in Kandersteg auf die Bedeutung Ihres Glaubens an Gott hingewiesen. Was wäre Adolf Ogi ohne diesen Glauben?
Sicher nicht jener Adolf Ogi, der ich heute bin!
Gott wurde noch nicht aus der Bundesverfassung, aber doch aus dem Leben vieler Schweizer verabschiedet. Wo sehen Sie die Folgen?
Ich glaube nicht, dass immer mehr Schweizerinnen und Schweizer Gott aus ihrem Leben verabschiedet haben. Aber der Glaube ist wohl persönlicher geworden. Viele suchen und finden Gott nicht mehr nur in der Kirche, im Gottesdienst. Sie finden ihn in der Natur, in der Stille, im persönlichen Gebet. Überall dort, wo die Kirche Wärme und Geborgenheit vermittelt, wo es dem Pfarrer durch das Wort gelingt, anzuregen, überall dort sind die Kirchen im übrigen voll...
In einer Radio-Talkshow haben Sie kürzlich von den Gebeten für Ihre Familie berichtet. Was bedeutet Ihnen das Beten?
Beten ist Zwiesprache. Ich kann danken, ich kann um den richtigen Weg bitten, ich kann um Fürsorge und Schutz bitten.
Ihr Impuls an die Christen in diesem Land: Wofür sollten sie im Blick auf das neue Jahr speziell beten?
Abgesehen davon, dass 2001 nach dem letzten Silvesterrummel nun tatsächlich das erste Jahr des dritten Jahrtausends ist: Die Gebete betreffen immer dasselbe, nämlich Liebe, Versöhnung, Frieden. Das gilt im privaten wie im öffentlichen Leben, zwischen Familien wie zwischen Völkern und Staaten.
Es war spürbar, dass Sie das Jahr als Bundespräsident mit Haut und Haar genutzt und auch genossen haben. Und was nun?
Mein zweites und letztes Präsidialjahr dauert bis zum 31. Dezember! Ich empfange noch den britischen Thronfolger, den österreichischen Bundespräsidenten, den italienischen Staatspräsidenten, das belgische Königspaar. Weitere Gelegenheiten also, Gästen aus dem Ausland die Schweiz zu zeigen und zu erklären. Vom 1. Januar 2001 an werde ich mehr Zeit für meine Familie haben, mehr Zeit zum Ausschlafen, mehr Zeit zum Skifahren und Bergsteigen, mehr Zeit zum Nachdenken. Wenn ich meine Batterien wieder voll aufgeladen habe, dann sehen wir weiter. Der Ogi ist noch zu jung, um in eine Hängematte zu liegen!
Worauf werden Sie als alt Bundesrat einmal stolz und dankbar zurückblicken?
Vorerst werde ich mich an den neuen Titel alt Bundesrat gewöhnen müssen... Aber zu Ihrer Frage: Beim ehemaligen Verkehrsminister steht sicher das Jahrhundertbauwerk Neat im Vordergrund, beim Verteidigungsminister die Armee XXI und die sicherheitspolitische Öffnung.
Wovon träumen Sie?
Von einer offenen, solidarischen, weltweit respektierten Schweiz, die ihre Erfahrungen aus über 700 Jahren Eidgenossenschaft in der internationalen Gemeinschaft einbringt.
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: Chrischona Magazin