Kirstine Fratz
Der Zeitgeist ist kein Feind
Die Zeitgeist-Expertin Kirstine Fratz weiss, wie er tickt, der Geist der Zeit, warum er so viel Einfluss hat und wir dem Trend der Zeit ständig nachlaufen. Internationale Marken und Konzerne klopfen bei ihr an, um zu hören, wie sie mit ihren Produkten noch besser den Nerv der Zeit treffen. Willow Magazin-Redakteur Gotthard Westhoff hat die Zeitgeist-Forscherin in ihrer Heimatstadt Hamburg besucht und mit ihr darüber gesprochen, wie die komplexe Welt heute tickt – und welche Chancen sich daraus für die Kirche ergeben.
Nach
meiner Ankunft in Hamburg bin ich gestern mit dem Rennrad an der Elbe
entlanggefahren. Dort tummelten sich trotz Nieselregen jede Menge
Läufer. Waren wir Sportbegeisterten damit alle auf den Spuren des
Zeitgeistes?
Kirstine Fratz: Absolut. Vor 50 Jahren hätte man
euch noch für verrückt erklärt, bei diesem Wetter Sport zu treiben –
oder überhaupt zu joggen. Heute schwimmt jeder, der regelmässig Sport
treibt, auf der obersten Welle mit, was den Körperstatus angeht. Laufen,
Wandern, Yoga... hat beim aktuellen Zeitgeist gerade einen hohen
Stellenwert. Dahinter steckt die Sehnsucht nach Gesundheit, Fitness, der
Unversehrtheit des Körpers – und seiner Optimierung.
Seiner Optimierung?
Ja, ich beobachte in den Sozialen Medien, wie auch beim Dating – das
fängt schon mit 14, 15 Jahren an –, dass man heute einen fitten Körper
braucht für die zwischenmenschliche 'Marktreife'. Das gehört
mittlerweile zur 'Grundausstattung', so wie eine coole Jeans. Der Körper
ist zum Statussymbol geworden.
Woran liegt das?
Weil man damit Anerkennung auf sich zieht. Und ganz ehrlich: Das ist
doch eines der schönsten Gefühle, die wir Menschen empfinden können. Und
weil der Körper zu einem Symbol geworden ist, müssen wir ihn auch
zeigen. Es ist ja mit viel Arbeit verbunden, wenn er vorzeigbar sein
soll. Und wenn man schon so viel Arbeit hineinsteckt, will man ihn auch
präsentieren. Das ist aktuell der Zeitgeist.
Wie definierst du «Zeitgeist»?
Er ist ein temporäres Versprechen für ein gelingendes Leben. Er gibt
bestimmte Ideale vor, wie wir glauben, leben, lieben, arbeiten und
aussehen müssen; wie wir unsere Kinder erziehen; uns anderen gegenüber
verhalten; oder was wir konsumieren... Wir tun all das, weil wir tief
im Inneren das Versprechen spüren, dass dadurch unser Leben gut wird.
Begegnen dir in deiner Forschung viele Menschen, die glücklich sind, weil sie dem Zeitgeist gefolgt sind?
Nein, natürlich nicht! Denn wenn sie den Zeitgeist-Anspruch mit ihrer
Lebenswirklichkeit vergleichen, entstehen meistens Schuldgefühle,
Selbstverurteilung und Angst, den Ansprüchen der Zeit nicht gerecht zu
werden. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, mündig und
schöpferisch mit dem Zeitgeist umzugehen und sein Leben entsprechend zu
gestalten.
Wann hat der Zeitgeist leichtes Spiel?
Wenn er in uns auf eine Sehnsucht trifft und das etwas auslöst.
Sehnsucht benötigt Impulse. Und da kommt das Potenzial von Zeitgeist ins
Spiel.
Worin liegt dieses Potenzial?
Die Versprechen des Zeitgeistes beinhalten letztlich immer die
Aufforderung, dass wir in Bewegung kommen. Dass Altes hinterfragt wird.
Dass Neues entsteht. Dieser Prozess birgt die Chance, dass eine
Gesellschaft sich weiterentwickelt. Man sollte die Ausdrucksformen des
Zeitgeistes also nicht gleich verteufeln, sondern sich ruhig kritisch
damit auseinandersetzen. Mir stellt sich in dem Zusammenhang noch eine
ganz andere Frage.
Nämlich?
Ist es überhaupt wichtig, den Moment im Leben zu finden, in dem wir
rundum zufrieden sind – und diesen Moment dann versuchen zu
konservieren?
Wie lautet die Antwort der Zeitgeist-Expertin?
Stell dir vor, du erreichst diesen Punkt mit 25 Jahren. Das wäre doch
furchtbar! Wir würden aufhören zu wachsen, uns Ziele zu setzen,
Entdeckungen zu machen und schöpferisch zu sein. Man muss sich von dem
Gedanken lösen, dass es erstrebenswert ist, im Leben stehenzubleiben.
Dass es den utopischen Punkt gibt, an dem sich plötzlich Zufriedenheit
und Angekommen-Sein einstellen. Diesen Moment gibt es nicht in der Form,
wie wir ihn uns vorstellen, glaube ich.
Obwohl uns das viele Produkte suggerieren.
Deshalb beschäftige ich mich als Forscherin mit dem Moment, in dem
der Zeitgeist als reines Potenzial in die Welt kommt. Als konstruktiver
Impuls, der auf etwas aufmerksam macht. Wenn man diese Momente aufspürt,
können viele schöne Dinge daraus entstehen.
Zum Beispiel?
Nehmen wir das Beispiel der Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper.
Davon hat die ganze Bio-Bewegung profitiert. Auch die Tierwelt.
Plötzlich hiess es: Denk nicht nur an deinen Körper und wie du dich
gesund ernährst, sondern auch an die Tiere und wie wir mit ihnen
umgehen! Dann kam das Bewusstsein für die Pflanzenwelt hinzu. In dieser
Phase steckte viel Potenzial für die Gestaltung einer gerechteren,
gesünderen und nachhaltigeren Gesellschaft. Aber irgendwann ist der
Zenit erreicht.
Und dann?
Dann verselbstständigt sich der Zeitgeist, wird zum Trend – und
instrumentalisiert: von Unternehmen, der Politik, Werbung, von
Interessensgruppen, Eltern... von all jenen, die sich davon einen
Vorteil versprechen. In dem Moment hört Zeitgeist auf, reines Potenzial
zu sein. Es entstehen Machtstrukturen, Kommerz, Zeitgeistgebote. Er kann
uns mit dem fortlaufenden Werben um immer neue Aufmerksamkeit
regelrecht terrorisieren. Wenn der aktuelle Zeitgeist schliesslich zur
Institution geworden ist, rüttelt der nächste Zeitgeist schon am System
und löst die Erstarrung wieder auf. Was man krampfhaft versucht hat zu
beschützen und zu bewahren, wird freigesetzt, kann wieder atmen, um in
neuer Form in die Gesellschaft zurückzukehren. Diesen belebenden Beitrag
des Zeitgeistes übersehen viele. Stattdessen blicken sie ängstlich
darauf, wie der Zeitgeist am erstarrten System rüttelt, und sagen: Der
Untergang naht!
Neben
internationalen Marken und Konzernen berätst du auch die katholische
Kirche. Weshalb sollte sich eine Kirche mit dem Zeitgeist beschäftigen?
Die Kirche hat in ihrer Geschichte schon immer mit und vom Zeitgeist
gelebt. Sie kann sich nicht einfach davon lösen. Beim Zeitgeist geht's
um mehr als ein paar Modetrends, die gerade en vogue sind. Es geht um
eine Mentalität, die die gesamte Gesellschaft durchdringt und der sich
niemand ganz entziehen kann. Sie bestimmt unser Denken und Empfinden,
kreiert Wertvorstellungen und beeinflusst unser Verhalten; sie trägt
dazu bei, dass sich unsere Kultur weiterentwickelt.
Wie sollte die Kirche denn auf den Zeitgeist reagieren?
Sie sollte ihn nicht
als Konkurrenten oder Feind ansehen, sondern als Informationsquelle für
die Sehnsüchte der Menschen begreifen. Der Zeitgeist weist darauf hin,
in welche Richtung sich die Sehnsucht nach Lebendigkeit entwickelt.
Welche Themen, Stimmungen, Mängel entstehen könnten. Hier gilt es,
Signale zu erkennen und zu deuten, bewusste und unbewusste Strömungen in
der Gesellschaft zu entschlüsseln. Ein grüner Smoothie kann Bände
sprechen, wenn man die Bereitschaft mitbringt, nicht alles gleich zu
verurteilen.
Du bist in einem atheistischen Umfeld aufgewachsen. Was hat dich bei deiner Beschäftigung mit der Kirche besonders überrascht?
Dass sie auf einem
irrsinnig grossen Sehnsuchtsschatz sitzt, der gehoben werden muss. Die
Kirche wird völlig unterschätzt. Dabei sind viele Menschen doch auf der
Suche: nach Zugehörigkeit, Liebe, Hoffnung, einem Glauben, der sie
trägt. Diesen Sehnsüchten versuchen sie näher zu kommen – durch eine
Armada von Coaches, Selbsthilfegruppen und -Büchern, durch
Schweigewochenenden in Klöstern oder durch Pilgern. Auf alle
erdenklichen Weisen versuchen sie, an die Erfahrbarkeit dieser ewigen
Themen heranzukommen. Die Anknüpfungspunkte für die Kirche liegen also
geradezu auf der Strasse!
Nur vermuten viele Sinnsucher nicht, dass die Kirche Antworten bereithält.
Das hat einen Grund: Die Kirche hat das Image, den Menschen einen
starren, lebensfremden Verhaltenskodex vorzuschreiben. Damit ist sie
über viele Jahre gut gefahren. Aber dieser Ansatz funktioniert im
heutigen Zeitgeist nicht mehr. Die Bereitschaft, bevormundet zu werden
und obrigkeitshörig zu sein – ja sich falsch zu fühlen –, ist extrem
gesunken. Es ist gerade eine schlechte Zeit für Institutionen.
Muss die Kirche also zeitgemässer werden?
Ich würde es anders formulieren: Sie muss resonanzfähiger werden.
Wie könnte das aussehen?
Sie muss Heimat werden für die kollektive Sehnsucht. Die Kirche
sollte wieder lernen, sich nicht dadurch zu definieren, wogegen sie ist,
sondern wofür sie steht.
Sind Unternehmen da lernfähiger?
Sicher. Nicht nur die Kirche, auch Unternehmen haben an
Institutionskraft verloren. Früher haben Coca-Cola oder Nike einen
Lifestyle kreiert, der sagte: Wenn du unser Getränk trinkst oder unsere Schuhe
trägst, darfst du auch an unserer Welt teilnehmen. Heute fragen sie:
Wer möchtest du gerne sein? Wir möchten dir dabei helfen, das zu
erreichen! «It's all about you» ist zum Kampfspruch im Marketing
geworden. Das liegt nicht daran, dass die Unternehmen geläutert wären
und sich zum generösen Förderer der Menschheit gewandelt hätten. Sie
reagieren nur auf den Zeitgeist, der sagt, dass die
Nonstop-You-Sichtweise aktuell resonanzfähiger ist.
Und vielleicht auch angenehmer für uns Zeitgenossen?
Nicht wirklich. Wenn eine Gesellschaft sagt: «Sei wer du bist!», ist
das keine echte Entlastung. Damit drängt sich nämlich die Frage auf:
Ja, wer bin ich denn eigentlich? Und wie finde ich einen Sinn für mein
Leben? Wir sind zwar fasziniert von dem Gedanken, wir selbst sein zu
können, merken aber oft gar nicht, wie fremdbestimmt wir eigentlich
sind. Wir befinden uns in einem Lernprozess zur Individualität.
Wie drückt sich das aus?
Wer sein eigenes Leben nicht komplett durchgestaltet, ist weit unten,
was die gesellschaftliche Anerkennung und den Status angeht. Und doch
bleibt die bange Frage: Wie gelange ich zu einer Stabilität im Leben?
Wie kann ich die vielen Unsicherheitsfaktoren aushalten? Man weiss nicht,
ob die Ehe hält, die Kinder sich gut entwickeln, die Gesundheit bleibt,
der Arbeitsplatz sicher ist. Das Leben bleibt voller Unsicherheiten,
ganz gleich wie man es auch gestaltet.
Und da bringt sich der Zeitgeist als Ersatzreligion ins Spiel?
Tatsächlich wollen viele Produkte Erlösungsmomente verkaufen, damit
Menschen – wenn auch nur für einen kurzen Moment – sagen können: Ich bin
erlöst vom Gefühl des Nicht-Genügens. Jetzt gehöre ich dazu: weil ich
ein bestimmtes Deo benutze, mir etwas an- oder abtrainiert habe oder ein
bekanntes Logo auf der Kleidung trage. Es ist erstaunlich, mit welcher
Motivation wir tief im Inneren unsere Kaufentscheidungen treffen.
Wie könnte die Kirche reagieren?
Die Bibel berichtet, dass Gott den Menschen so liebt wie er ist.
Diese Aussage ist gegenüber dem Zeitgeist nahezu konkurrenzlos. Denn für
das säkularisierte Individuum Mensch ist es höchst selten, diese
Erfahrung auf weltlicher Ebene zu machen. Die meiste Zeit in unserem
Leben werden wir aufgefordert anders zu sein, uns zu verbessern und zu
optimieren. Wenn aber eine Kirche diese göttliche Haltung der
bedingungslosen Annahme transportieren und leben würde, hätte das eine
unglaubliche Anziehungskraft.
Mit welchen Folgen?
Im besten Fall: dass man dieser Kraft, die so viel grösser ist als man
selbst, vertraut und bei ihr ein Zuhause findet. Das würde zugleich die
Grundlage für eine Zeitgeist-Mündigkeit bilden, dass wir mit dem
Zeitgeist schöpferisch und spielerisch umgehen lernen.
In deinem «Buch vom Zeitgeist» beschreibst du die Produkte, die
Unternehmen aufgrund von aktuellen Trends auf den Markt bringen, als «kleine Zeitgeist-Verführer mit flüchtigen Erlösungs-Momenten für die
aktuelle Idee von einem gelungenen Leben». Hast du dich durch deine
Beratungstätigkeit zur Mittäterin gemacht?
Ich gebe es zu: Was ich damals gemacht habe, war das
Instrumentalisieren des Zeitgeistes. Ein Marketing-Chef sagte mir mal: «Schmieden Sie uns einen Nasenring, mit dem wir unsere Konsumenten durch
ihr Leben ziehen können!» In dem Moment wurde mir klar: Das will ich
gar nicht! Auf der anderen Seite kann ich meine Beratungstätigkeit mit
den Unternehmen in der Form vertreten, dass neue gesellschaftliche
Sehnsüchte Heimat brauchen. Das kann auch mal so banal sein wie eine
neue Tütensuppe oder ein neues Shampoo. Und vielleicht habe ich dazu
beigetragen, dass die positiven Potenziale des Zeitgeistes
instrumentalisiert wurden und nicht die negativen. In dieser Hinsicht
hat meine Zusammenarbeit mit der Kirche meine Arbeit extrem vertieft.
Kristine Fratz wird an der nächsten Willow Creek Tageskonferenz am 28. August 2021 auftreten. Die Willow Creek Tageskonferenz ist eine Einladung, den Blick
von den alltäglichen Herausforderungen weg- und neuen Chancen
hinzulenken. Ein Tag vollgepackt mit Inspiration und Motivation - für
Leitung mit Perspektive.
Zum Thema:
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«geistlich.emotional.reifen.»: Vom Positiven des Zeitgeistes und den leisen Weltveränderern
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Autor: Gotthard Westhoff
Quelle: www.willowcreek.de
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