Willensforschung
Ein Fitnessprogramm für Neujahrsvorsätze
In der Alltagssprache sind «fehlende Disziplin» oder «schwacher Wille» gängige Begriffe. Umso erstaunlicher, dass sich die wissenschaftliche Psychologie mit der «Willenskraft» über Jahrzehnte hinweg sehr schwergetan hat. Heute wird sie nun aber in Psychologie und Pädagogik wieder zum Thema.
Der Mensch wurde lange als blosse «Reiz-Verarbeitungs-Maschine» gesehen. In den 80er-Jahren glaubten Neurowissenschaftler den Beweis erbracht zu haben, dass der sogenannte «freie Wille» gar nicht existiert. Wenn Menschen nach ihren Stärken befragt wurden, bildete die «Selbstdisziplin» in der Regel das Schlusslicht. Dies ist in Westeuropa sicher auch historisch zu erklären: Beim Thema «Willenskraft» denken wir schnell an Nazideutschland. Kein Wunder, dass der Pädagoge Bernhard Bueb für sein im Jahr 2006 erschienenes Buch «Lob der Disziplin» aufs Heftigste kritisiert wurde.
Der menschliche Wille funktioniert wie ein Muskel
Vor rund fünf Jahren wurde eine grosse neuseeländische Langzeitstudie abgeschlossen, die ähnliche Ergebnisse wie die berühmten Marshmallow-Experimente in den 60er-Jahren (siehe unten oder hier im Youtube-Clip) lieferte: Kinder mit einer guten Selbstkontrolle waren 30 Jahre später erfolgreicher, glücklicher, reicher…; sie hatten zudem weniger Drogenprobleme und die besseren Zähne. Selbstkontrolle scheint dabei wichtiger zu sein als beispielsweise Intelligenz, soziale Herkunft oder Selbstbewusstsein. Der Psychologe Roy Baumeister fasst in seinem kürzlich erschienen Buch «Die Macht der Disziplin» (Campus-Verlag) die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zusammen und kommt zum Schluss: Der menschliche Wille kann trainiert werden wie ein Muskel. Dazu zwei praktische Beispiele:
- Wer sein Verhalten ändern will, darf nicht mehrere Vorsätze gleichzeitig angehen – diese würden den «Disziplin-Muskel» zu schnell ermüden. Baumeister ist daher gegen radikale Veränderungsvorhaben und empfiehlt Misserfolge als normale Ereignisse während eines Aufbautrainings zu sehen und sich davon nicht entmutigen zu lassen.
- Es ist nicht so wichtig, wie die Willenskraft trainiert wird. Gemäss Baumeister stärkt beispielsweise ein simples Training wie «Ich werde bei der Arbeit konsequent gerade sitzen» auch den Willen für andere Lebensbereiche – trainiert wird in jedem Fall der «Disziplin-Muskel».
Trainingsvorsprung für Christen
Baumeister bezeichnet sich als Agnostiker. Interessanterweise befasst er sich aber intensiv mit der seiner Meinung nach überdurchschnittlichen Selbstdisziplin von religiösen Menschen. Er geht davon aus, dass Christen im Umgang mit all den Versuchungen der Moderne einen Trainingsvorsprung haben. Baumeister verweist auf den Musiker Eric Clapton, der seine Alkoholprobleme erst dann in den Griff bekam, als er Christ wurde.
Viele heutige gesellschaftliche Probleme hängen mit mangelnder Selbstdisziplin zusammen: zwanghafter Konsum, Verschuldung, Suchtprobleme u.a. Um Kinder auf diese Herausforderungen vorzubereiten, reicht die Förderung von Selbstwert und Selbstbewusstsein nicht aus – und kann bei einseitiger Betonung sogar zu Narzissmus führen. Kinder profitieren von Eltern, welche ihnen Werte vermitteln und sie zur Selbstdisziplin anleiten.
Der Marshmallow-Test
In diesem Experiment mussten Kinder alleine im Raum vor einem Marshmallow sitzen, ohne es zu essen. Als Belohnung für das Warten wurde ihnen ein zweites Marshmallow versprochen. Die sensationellen Studienergebnisse entdeckte der Psychologe Walter Mischel per Zufall: Seine Töchter hatten die untersuchte Schulklasse besucht und erzählten ihm 13 Jahre später vom Schicksal der ehemaligen Kollegen. Wer als Kind der Versuchung des sofortigen Genusses besser widerstehen konnte, meisterte das Leben als Erwachsener deutlich besser. Auf Youtube können unter dem Stichwort «marshmallow test» Kinder beim Ausharren vor dem Marshmallow beobachtet werden. Anschaulicher kann die Herausforderung der Selbstdisziplin nicht gezeigt werden.
Diesen Artikel hat uns freundlicherweise das Magazin INSIST zur Verfügung gestellt.
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Autor: Beat Stübi
Quelle: Magazin INSIST